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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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hingegen sagte sehr leise: O nein, du wirst nicht gehen.
    Alle Häuser sahen gleich aus. Es gab keine Straßen mehr, keine Orientierungspunkte. »Wo lassen wir das Auto?«, fragte Francesca.
    »Ist eigentlich egal.«
    Contini stellte den Wagen am vermuteten Straßenrand, hinter einem aufgeschütteten Schneehügel ab. Ob sie je wieder von hier loskämen, war fraglich, aber im Moment war das ihre geringste Sorge.
    Der Ort war wie ausgestorben - eine weiße Wüste, in der die verschleierten Straßenlaternen Irrlichtern glichen. Sobald man die von einem Räumfahrzeug mehr schlecht als recht gespurte Furche der Hauptstraße verließ, versank man bis zu den Knien im Schnee. Und die Flocken peitschten so schräg herab, dass man kaum die Augen offen halten konnte. Contini packte Francesca am Arm.
    »Dort drüben, glaube ich.«
    Suchend ließ er den Blick über die Schneeberge entlang dem Straßenrand wandern: Nachdem jeder Schritt eine Mühsal war, musste man ein Ziel möglichst genau anvisieren.
    »Versuchen wir’s hier«, sagte er.
    »Ist es das Haus?«, fragte Francesca und deutete auf einen Lichtschimmer im Schnee.
    »Kann sein«, antwortete Contini.
    Sie kämpften sich durch einen Korridor, der ein Gartenweg gewesen sein mochte - hier hatte jemand vor einigen Stunden Schnee geschaufelt. Contini entdeckte ein Namensschild neben der Haustür, und als er den Namen Adele Fontana las, fiel ihm ein Stein vom Herzen.
    »Wir haben’s geschafft«, sagte er zu Francesca. »Du warte bitte hier, und wenn ich in fünf Minuten nicht wieder da bin, fahr weg.«
    »Aber …«
    »Du kannst ja nichts tun! Wenn ich nicht bald wiederkomme, heißt das, dass er gewonnen hat. Also fahr bitte sofort weg, ruf die Polizei, wenn du willst, aber verschwinde. Ja?«
    »Ja.«
    Natürlich war die Haustür geschlossen, und auf die Klingel zu drücken kam nicht infrage. Contini zog sein Werkzeug aus der Tasche und breitete es neben sich aus, und es dauerte keine drei Minuten, bis die Tür offen war.
    Ich wagte nicht mehr, durchs Fenster zu schauen. Martignoni war so aufgeregt, dass er dem Herzinfarkt nahe schien. Sein Geschäftspartner habe ihn hintergangen und in seine schmutzigen Geschäfte hineingezogen, schrie er. Zu diesen schmutzigen Geschäften gehörte auch der Staudamm von Malvaglia, wie du in Martignonis Brief lesen wirst. Calgari war ebenfalls aufgeregt, aber er schrie nicht. Er sprach sehr leise, und ich verstand nicht alles, was er sagte. Dein Vater versuchte beschwichtigend einzugreifen, aber Calgari beschimpfte auch ihn - für wen er sich halte, er sei ja doch nur ein verkrachter Polizist.
Dann warf jemand eine Tür zu, und ich hörte dumpfe Geräusche wie von fallenden Gegenständen. Jemand, wahrscheinlich dein Vater, schrie auf, und es folgte ein gedämpfter Knall. Heute denke ich, das war vielleicht ein Schuss aus einer Waffe mit Schalldämpfer. Und im nächsten Moment schrie Martignoni: Bist du wahnsinnig, was hast du getan? Und Calgari darauf, jetzt ebenfalls laut: Halt’s Maul, du sollst das Maul halten, hab ich gesagt!
    Contini versuchte sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Im Spalt unter einer Tür sah er Licht. Er schlich sich heran und spähte durchs Schlüsselloch. Es war der Salon. Eine Stehlampe brannte neben einem Sessel, aber so weit er sehen konnte, war der Raum leer. Jetzt galt es nichts zu überstürzen, nichts Unüberlegtes zu tun. Sondern leise und bedächtig zu handeln. Auf Zehenspitzen stieg Contini im Dunkeln die Treppe hinauf.
    Irgendwann trat eine lange Stille ein. So lang, dass ich schon dachte, sie seien vielleicht durch die andere Tür verschwunden. Ich dachte, jetzt könnte ich eigentlich anklopfen, schließlich hatte dein Vater mich eingeladen, und vielleicht waren die anderen ja fort. Ich weiß, wie dumm das war, lieber Elia, aber in solchen Momenten klammert man sich an jeden Strohhalm.
Ich ging also zur Haustür, und bevor ich läuten konnte, kam Calgari mit finsterer Miene heraus. Und ich Närrin fragte ihn noch: Was ist passiert, habt ihr gestritten? Und er gab erst keine Antwort. Er schaute zu den anderen Häusern hinüber, wo noch Leute zugange waren, die ihre letzten Habseligkeiten heraustrugen oder einen Abschiedstrunk teilten. Dann fuhr er mich an: Was hast du gehört? Was hast du gehört, Alte? Damals war ich noch nicht so alt - ich schätze, das sagte er, weil er erschrocken war und mir Angst machen wollte. Ich wich zwei Schritte zurück, in Richtung der Nachbarhäuser. Ich hatte wirklich

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