Am Grund des Sees
angehört, mein Vater sei unten am Grund des Sees... Nachgeschaut haben Sie nie, stimmt’s?«
»Na ja, es gab ja keinen einzigen konkreten Hinweis, dass …«
»Eben. Es gab nichts. Aber als ich jetzt erfahren habe, dass der Stausee erweitert werden soll und dass ein paar Betroffene vielleicht wieder Beschwerde erheben werden, dachte ich … also, vielleicht versuch ich’s noch mal.«
Der Kommissär schüttelte den Kopf.
»Zwanzig Jahre danach?«
»Ich kenn doch unsere Gegend, Herr Kommissär. Wenn vor zwanzig Jahren was faul war, dann gibt es heute noch irgendwo einen Gestankherd. Hier verschwindet nie etwas spurlos. Warum sollte mein Vater die Ausnahme sein?«
Kommissär Laffranchi öffnete den Mund, um zu antworten, aber es fehlten ihm die Worte. Auseinandersetzungen, Geldwäscherei, der große Stausee von Malvaglia, die Protestkundgebungen. Der Bericht mit den Personenkennzeichen der Verschwundenen: Contini, Ernesto, Größe 1,80 m, Gewicht 80 kg, mittlerer Körperbau, graue Haare, schwarzer Schnurrbart, trug zum Zeitpunkt des Verschwindens …
Mit einem Mal war ihm klar, weshalb es besser war, die Erinnerung zu fliehen.
»Erinnerungen verwirren die Gedanken«, sagte er. »Nach so vielen Jahren die Ermittlungen wieder aufzunehmen, wird nicht einfach sein. Obskure Geldgeschäfte, Ihr Vater … was haben wir denn, was bleibt?«
»Es bleibt der Staudamm«, sagte Contini. »Es bleibt das Haus auf dem Grund des Stausees, und es bleibt die Treuhandgesellschaft Finzi. Was sagt übrigens Herr Finzi zu der ganzen Sache?«
Erinnerungen verwirren die Gedanken. Laffranchis Kopf war voller Bilder und Worte aus einer anderen Zeit. Und er wusste nicht, was er diesem Jungen sagen sollte. Diesem Detektiv, der leise sprach und ihm Fragen anbot, als wären es Pralinen.
»He!«, sagte der Gorilla am Eingang. »Wir lassen keine alleinstehenden Männer rein.«
»Alleinstehende Männer?«, fragte Chico Malfanti verdutzt.
»Hast du mich gehört?« Der Gorilla trug einen eleganten schwarzen Anzug und darunter ein T-Shirt, auf dem SECURITY stand. »Du kommst hier nur in weiblicher Begleitung rein.«
Das Casanova war eines der gefragtesten Luganer Nachtlokale und konnte es sich leisten, sich seine Gäste auszusuchen.
»Ciao, wie geht’s?«, begrüßte der Gorilla einen blonden Knaben, der hinter Chico anstand. »Immer auf Achse, wie?«
Der Blonde zwinkerte dem Gorilla zu, und obwohl er unbeweibt war, zog er an der Warteschlange vorbei und trat ein.
»Und wieso darf der hier rein?«, fragte ein Typ mit Motorradjacke.
Der Gorilla ignorierte ihn.
»Das ist doch unfair!«, protestierte der Motorradfahrer. »Ich kenne übrigens den Eigentümer!«
Chico grinste. Wieder ein Idiot aus der Kategorie Sie-wissen-nicht-wer-ich-bin. Vom Gorilla unbeachtet, zeterte der Motorradfahrer vor sich hin, während sich Chico und seine Kumpel auf eine längere Wartezeit gefasst machten. Dass das Casanova , ob weibliche Begleitung oder nicht, früher oder später auch ihnen die Tür öffnen würde, war klar: Hauptsache, man zahlte.
Unterdessen widerstand Chico der Versuchung, Gianca und Ramon von seinem Abenteuer in Lodrino zu erzählen. Ein von Verzweiflung überwältigter Mandant, der den eigenen Anwalt bedroht, war zwar eine Szene wie aus einem Fernsehkrimi, dennoch war es in diesem Fall besser zu schweigen. Obwohl es eine Qual war, sich als Held zu fühlen und kein Sterbenswörtchen sagen zu dürfen.
Endlich nickte ihnen der Gorilla zu und öffnete gnädig die Tür zur Luganer Version des Paradieses auf Erden. Der Typ hinter ihnen, der Bekannte des Eigentümers, schäumte vor Wut.
»Sobald ich drin bin, zeig ich’s ihnen«, hörte ihn Chico schimpfen. »Einen Liter Champagner bestell ich, jawohl, das wird ihnen eine Lektion sein!«
»Der ist doch schwachsinnig«, kommentierte Gianca, als sie an der Garderobe die Jacken abgaben.
Ramon brummte zustimmend, und Chico, der schon in der Tür zum Saal voller Musik und Gesichter stand, grinste selig: »Los, Kinder, jetzt amüsieren wir uns!«
Es war ein ganz normaler Luganer Winterabend mit DJ Kevin, der über den Saal des Casanova hinweg donnernd den »abgespactesten Sound von ganz Lugano City« versprach, während unten die schlitzohrigen jungen Anwalts- oder Bankersöhne Tische reservierten und sich jeden Quatsch einfallen ließen, nur um bei den Mädchen zu punkten. Martini- und Tequilaströme flossen durch das Lokal, jeder Versuch einer Unterhaltung kämpfte gegen die Dezibels
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