Am Grund des Sees
Hinweise?«
»Nein. Aber den Stausee von Malvaglia habe ich früher überhaupt nicht bedacht - ich hab ihn nie mit meinem Vater in Verbindung gebracht.«
»Und jetzt?«
»Jetzt will ich herausfinden, wer den Ausbau wollte, wer ihn nicht wollte und vor allem: wer Geld investiert hat.«
»Bitte pass auf, Elia …«
Er lächelte.
»Schon klar. Ich stelle nur nette Fragen und bring mich nicht in Scherereien, ich versprech’s. Weißt du, ich habe früher in Malvaglia gewohnt; dort gibt es noch Leute, die sich an meinen Vater erinnern, und vielleicht …«
»Wie war er?«
»Wer?«
»Dein Vater.«
Contini starrte sie an.
»Keine Ahnung. Ich war ein Kind.«
»Ja, aber an irgendwas wirst du dich doch erinnern … Was war er von Beruf?«
Contini antwortete nicht gleich. Er betrachtete die Auslage eines Optikers, als interessierten ihn die ausgestellten Brillen. Schließlich sagte er leise: »Polizist.«
»Ach!«
Contini beugte sich vor, um die randlosen Brillen im Schaufenster zu betrachten.
»Aber er ist vorzeitig in Pension gegangen«, fuhr er fort, »und hat sich in Malvaglia ein Grundstück gekauft. Wurde Bauer, ist auf die Jagd gegangen, das gefiel ihm … Eigentlich war er ein verschlossener Mensch.«
Francesca lächelte.
»Das glaub ich dir gern!«
Auch Contini lächelte, und Francesca meinte zu spüren, wie ihn die trüben Gedanken verließen. Sie drückte sich an ihn und schmiegte das Gesicht an seinen Pelzkragen. Contini legte den Arm um sie und strich ihr über das Haar.
Dennoch fühlte Francesca sich unbehaglich. Es kam ihr vor, als bewegten sie sich in Zeitlupe. Oder hatten es die anderen Passanten besonders eilig? Sie hasteten vorüber wie Schatten, die das gelbe Licht der Straßenlaternen in die Laubengänge warf. Die Innenstadt von Lugano hatte wieder dieses Erschöpfte, Ausgelaugte an sich wie jedes Jahr Ende Januar, wenn es aus den Schaufenstern SCHLUSSVERKAUF! schrie, während in manchen Auslagen noch die Weihnachtsdekoration hing.
Contini blieb stehen, um einen Brief einzuwerfen, und steuerte dann ihr Stammlokal Piero an. Das Restaurant war nur spärlich besetzt, und Piero servierte ihnen eine seiner Spezialitäten: Spaghetti Bäckerinnenart, mit einer Soße aus Walnüssen, sardischem Käse und Basilikum. Contini bestellte eine Flasche Merlot, und Francesca versuchte, noch mehr über seinen Vater aus ihm herauszubringen. Aber sein mitteilsamer Augenblick war vorüber, er schien im Geist schon wieder anderswo zu sein. »War das ein wichtiger Brief?«, fragte sie beiläufig.
»Was denn?«
»Na, der Brief, den du vorhin eingeworfen hast.«
»Ach so. Nein, das war … ach, nix Besonderes.«
»Nix Besonderes.« Francesca hatte ihn schon mehrfach gefragt, an wen diese Briefe adressiert waren, um die er so ein Geheimnis machte, aber er hatte es immer verstanden, ihr auszuweichen. Sie wechselte besser das Thema.
»Hast du diese Woche die Füchse gesichtet?«
»Hm, ja, aber einer der Rüden ist ein bisschen unruhig, er legt enorme Strecken zurück …«
Francesca trank einen Schluck Wein. Wie viele Paare sich wohl über Füchse unterhielten, weil alle anderen Gesprächsthemen vermintes Terrain waren? Vielleicht war es ihre Schuld; vielleicht war es ihr Schicksal, dass sie immer an schräge Typen geriet. Francesca liebte ihn, aber auf die Frage: Wer ist Elia Contini? hätte sie keine Antwort gewusst.
Kommissär Laffranchi redete gern über die Vergangenheit. Das war ihm klar geworden, seitdem er in Pension war. Da er diese Neigung aber für eine Schwäche hielt, zwang er sich, Vorfälle, die länger als zehn Jahre zurücklagen, gar nicht erst zu streifen. Nie erwähnte er, dass er in seiner aktiven Zeit Polizist gewesen war, und nie erzählte er von seiner zu früh verstorbenen Frau. Geschweige denn von seiner Kindheit.
Osvaldo Laffranchi war ein Mann, der mit beiden Beinen in der Gegenwart stand: Es freute ihn, wenn man ihn so sah. Ein erdverbundener, praktisch veranlagter Mensch, einer, der dir in fünf Minuten einen Motor repariert und dem du dich rückhaltlos anvertrauen kannst, wenn du Sorgen loswerden willst. Ein Fels in der Brandung.
Ratlos aber war der Fels vor der Frage, wie er sich gegenüber diesem Contini verhalten sollte. Theoretisch hätte er sofort nein sagen müssen. Wo kämen wir denn hin? Einem Privatschnüffler von einem seiner Fälle zu erzählen - noch dazu einem ungelösten! Allerdings war Contini auch ein Opfer. Kommissär Laffranchi dachte an den blassen
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