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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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niemand eingriff.
    In einem günstigen Augenblick versetzte Contini seinem Gegner einen Kopfstoß. Der Ingenieur stieß einen Schrei aus, sein Griff lockerte sich, und Contini nutzte die Gelegenheit, um sich unter ihm hervorzuwinden. Er wollte sich aus dem Staub machen, aber Vassalli streckte eine Hand nach ihm aus und erwischte ihn. In dem Moment aber erwachten die Zuschauer aus ihrer Erstarrung und trennten die beiden mit Gewalt.
    »Seid ihr wahnsinnig geworden?«
    »Was fällt euch denn ein?«
    »Sandro, was ist denn in dich gefahren?«
    »Wer sind Sie überhaupt?«
    Für diesen Abend war die Probe der Spacatesta-Band beendet. Nachdem sich der Aufruhr gelegt hatte und das Nötigste geklärt war, gingen alle ihrer Wege, niemand ergriff Partei. Ein paar, die seinen Vater gekannt hatten, nickten Contini einen zurückhaltenden Gruß zu. Draußen auf dem Parkplatz gingen nacheinander die Scheinwerfer an, ein Auto nach dem anderen fuhr durch den Regen davon. Wer zu Fuß unterwegs war, stülpte sich die Kapuze über, stopfte die Hände in die Taschen und machte sich rasch auf den Heimweg.
    Contini, der seine schmerzende Schulter massierte, entfernte sich als einer der Ersten. Angesichts der Umstände fand er es ratsam, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Deshalb entging ihm, dass sich unter den Musikern ein Kindheitsfreund von ihm befand...
    Tommaso Porta verstaute liebevoll sein Saxophon. Neben ihm hatte der Trommler sein Instrument bereits in Wachstuch verpackt.
    »Das ist vielleicht eine Geschichte«, sagte Tommi beiläufig. »Wem sagst du das«, antwortete der Trommler. »Ich hab doch gleich gesagt, wir lassen es heuer lieber bleiben!«
    Tommi brach mit den anderen auf. Er fuhr besonders langsam, um nicht seinen geliebten Honda in den Schlaglöchern auf dem Weg zu ruinieren. Der Rhythmus der Scheibenwischer gab seinen Gedanken den Takt vor. Wamm, wamm. Tommi fragte sich, wie viele Male pro Minute sie sich hin und her bewegten - wamm, wamm - und ob die Reihe der Scheibenwischerschläge sich wohl irgendwann mit der Reihe der Minuten träfe, so dass der Wischertakt mit der ersten Sekunde der ersten Minute einer Stunde zusammenfiele …
    Vielleicht wenn man die Reihe bis ins Unendliche verlängert.
    Aber nein, sie treffen sich nie. Vielmehr: höchstwahrscheinlich nie.
    Die Zeit - getaktet: wamm, wamm -, es war die Zeit, die Tommi durcheinander brachte. Das Gewicht der Vergangenheit forderte pünktliche Wiedergutmachung; sie musste so präzise stattfinden wie der Takt des Scheibenwischers.
    Aber Tommi bekam es zum zweiten Mal mit der Angst. Es ging ihm allerhand durch den Kopf, zu viel, - Pläne, Ideen, Gedanken ohne Gestalt, die er niemandem erzählen konnte. Ja, er hatte geweint und sich danach gesehnt, die Zeit zurückzudrehen. Aber die Zeit schreitet unbarmherzig voran. Wamm, wamm. Kein Entrinnen.
    »Weiter, weiter«, rief er, um sich Mut zu machen, als er im Licht der Scheinwerfer auf der asphaltierten Straße dahinfuhr. Es war eine unzugängliche Gegend, das Malvagliatal. Gottverlassene Häuser mitten im Wald, Überreste viel älterer Kulturen, überall Spuren, die an Heimatlosigkeit und Leiden gemahnten. Und inmitten von alledem dieser Staudamm, dieser schwarze See zwischen Felswänden.
    Zu Hause angelangt, holte er sich ein Bier und ging in den ersten Stock hinauf.
    Vor dem Mord an Bürgermeister Pellanda hatte eine tiefe Furcht von ihm Besitz ergriffen. Eine Empfindung, die ihn erst dazu getrieben hatte, zu töten, und fast im selben Moment, noch während seiner Tat, zu bereuen, was er getan hatte.
    Er zündete die Kerzen im Fotozimmer an. Diese Gesichter im Halbdunkel waren seine Vertrauten geworden. Desolina Fontana, Alessandro Vassalli, Elia Contini und Andrea Porta. Und Giovanni Pellanda - aber bei ihm war es Zeit für den Abschied. Er nahm das Foto von der Wand und hielt es an die Kerzenflamme.
    Während der Bürgermeister in Flammen aufging, studierte Tommi die übrigen Gesichter.
    Jeden Abend betrachtete Andrea Porta seinen Sohn, und jeden Abend fühlte sich Tommi ihm ein Stück näher. Auch Desolina sprach viel mit ihm, sie erzählte ihm aus der Kindheit. Und Vassalli? Vassalli schwieg und wartete auf seine Stunde.
    Und Elia, Elia.
    »Warum?«, fragte er. »Warum hilfst du mir nicht?«
    Elia gab keine Antwort. Tommi fühlte sich allein. Wie gern hätte er diesen ganzen Mist vergessen und eine schöne Reise gemacht. Oder hätte um Vergebung für seine Tat gebeten. Vielleicht wenn er mit Pellandas

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