Anflug von Verblüffung. Das Elend war, dass er es nicht einmal merkte: Dass er nicht normal war, fiel ihm überhaupt nicht auf - schließlich lebte er damit. Er reichte ihr eine Tasse Kaffee mit einem Beutelchen Zucker.
»Also Vorschlag«, fuhr sie fort, während sie ihren Kaffee umrührte. »Lass uns heuer auf die Fasnacht gehen. Ja?«
»Auf die Fasnacht?«
»Ja! Wir gehen raus, trinken was, feiern!«
»Also …«
»Und vergessen die Doktorarbeit und den Stausee und machen uns einen lustigen Abend. Amüsieren uns ein bisschen …« Francesca strengte sich sehr an, Begeisterung zu bekunden. »Na komm, Contini, heute lass ich dich in Ruhe, aber dafür versprichst du mir, dass du am Samstag mit mir nach Bellinzona fährst, okay?«
»Ich amüsiere mich normalerweise eigentlich nicht.« Contini leerte seinen Kaffee. »Aber ich kann dich begleiten, klar, wenn du so gern möchtest …«
»Gut, gut, das reicht schon!« Francesca stand auf. »Für heute hast du genug gesagt, und versprochen ist versprochen …«
Sie trat auf ihn zu, küsste ihn hastig auf die Wange.
»Ein Mann, ein Wort, Contini!«
Damit verschwand sie durch die Tür. Contini hörte sie den Wartesaal durchqueren und das Büro durch die Vordertür verlassen. Er wartete ein paar Sekunden ab, dann stand er auf, ging zur Eingangstür, sperrte ab und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.
Aus dem Fenster starrend, rauchte er eine Zigarette.
An diesem Nachmittag wollte er noch einmal nach Malvaglia fahren. Seit der Szene mit Vassalli hatte er sich dort nicht mehr blicken lassen, aber eine Ahnung sagte ihm, dass die Wahrheit über seinen Vater - und vielleicht auch über Pellandas Tod - irgendwo dort, zwischen dem See und den Häusern zu finden war.
Zuvor musste er allerdings noch ein paar bürokratische Dinge erledigen und seine elektronische Post lesen. Er bekam nicht viele Mails, weil er keine private, sondern lediglich eine Büroadresse -
[email protected] - eingerichtet hatte, damit ihn Klienten erreichen konnten. Der traditionelle Postweg war ihm lieber. An diesem Tag fand er in seiner Mailbox nur Werbung, der Briefkasten hingegen enthielt eine Überraschung.
Es war ein Brief aus Spanien. Mit dem Absender konnte er nichts anfangen, mit der Handschrift ebenso wenig. Deshalb drehte er, bevor er zu lesen anfing, das Blatt um und sah die Unterschrift, und es war, als wäre die Zeit um zwanzig Jahre zurückgedreht worden.
Lieber Elia,
ob du dich noch an mich erinnerst? Ich glaube eigentlich schon.
Jetzt habe ich diesen Brief an dich angefangen, und dabei weiß ich noch gar nicht, ob ich ihn je abschicke. Wie auch immer. Ich habe mich damals, vor vielen Jahren, zum Fortgehen entschlossen, um dein Leben nicht länger mit den bösen Erinnerungen zu belasten, die ich mit mir herumtrug. Ich bin gegangen, als du achtzehn warst. Du hast nie gefragt, warum, und ich frage mich seither, ob du wohl was wusstest. Die Wahrheit ist, dass mir erst später klarwurde, was passiert ist. Am Anfang hat die Angst alles Denken ausgelöscht, aber sobald die Erinnerungen wieder da waren, musste ich gehen. In den vielen Jahren seither ist es mir fast gelungen zu vergessen.
Ich habe in Spanien viele Verwandte, und es ist mir hier sehr gut ergangen, ich durfte meine Neffen und Nichten aufwachsen sehen, fand neue Freundinnen und Freunde. Ich versuchte, nicht mehr an die Schweiz zu denken, was nicht immer leicht war, denn hin und wieder kamen doch Nachrichten von zu Hause.
So ist mir jetzt zu Ohren gekommen, dass der Stausee noch einmal erweitert werden soll und dass der Bürgermeister auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Das hat mich ins Grübeln gebracht, und ich habe mich lange bemüht, die Ereignisse jenes Abends zu rekonstruieren. Was ich damals gesehen habe, will ich nicht ins Grab mitnehmen. Deshalb schreibe ich jetzt meine Erinnerungen auf und komme in die Schweiz und erzähle dir alles. Dann kannst du selbst entscheiden, was du damit anfangen willst.
Nachdem ich jetzt so weit bin, denke ich, dass ich dir diesen Brief doch schicken kann. Es scheint mir das Richtige.
In Zuneigung, deine alte Freundin Desolina Fontana
Nachdem er den Brief zweimal von Anfang bis Ende gelesen hatte, öffnete Contini das Fenster und rauchte noch eine Zigarette. Malvaglia, dachte er, musste bis zum nächsten Tag warten. Heute wollte er direkt nach Corvesco zurück: Er brauchte Stille, musste mit seinen Gedanken allein sein.
Da er schon seit Tagen keinen Blick auf