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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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Franken in die Stromerzeugung aus Wasserkraft, aber die Tessiner Regierung schaffte es nicht, sich an den Zug anzuhängen: Sie stürmte, verspätet, in den Bahnhof, legte noch einen Spurt hin und versuchte aufzuspringen, allein es war nichts mehr zu machen … Geld und Strom entschwanden über die Alpen. Dann versuchte man aufzuholen. Das Bundesgericht tat das Seine dazu, und Ende der fünfziger Jahre entstand die Società Elettrica Ticinese, die Tessiner Elektrizitätsgesellschaft: Die Politiker redeten, und die Anwälte verhandelten.
    Und die Staudämme thronten breit in der Landschaft wie unbegreifliche Gottheiten und überwachten die Dörfchen. Und wenn Contini in Malvaglia vorbeikam - seltenst! denn er umging es, wo er konnte -, musste er an die erbitterten Grabenkämpfe denken, an die glühenden Reden und an das unter Tausenden Kubikmetern Wasser versunkene Haus, in dem er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte.
    »Elia«, begrüßte ihn die Witwe des Bürgermeisters Pellanda.
    »Gnädige Frau«, sagte Contini. »Mein herzliches Beileid.«
    »Ja. Danke. Wollen Sie hereinkommen?«
    Sie trug Schwarz und hatte die Haare zu einem Knoten aufgesteckt. Die Leiche ihres Mannes war inzwischen zur Beerdigung freigegeben, und der Sarg mit dem festlich gekleideten Toten stand im Haus. Rosa Pellanda klammerte sich an die traditionellen Gesten der Trauer: Sie bekämpfte die Verzweiflung mit Ritualen.
    »Möchten Sie was trinken? Gläschen Weißwein?«
    Contini sagte nicht nein. Mit leisem Schritt, das Glas in der Hand, folgte er ihr in den Salon. Er stellte fest, dass es nicht das Zimmer war, in dem ihn Pellanda einige Tage zuvor empfangen hatte, sondern der Empfangsraum für feierliche Anlässe - Hochzeiten, Verwandtenbesuche, Todesfälle. Mit einem Nicken begrüßte Contini die Anwesenden. Dann trat er an den offenen Sarg und betrachtete Giovanni Pellanda, den man wieder zusammengeflickt und geschminkt hatte, damit er einen erträglichen Anblick bot.
    Eine in kilometerlange schwarze Stoffbahnen gehüllte Greisin näherte sich. Sie stellte sich neben ihn und beäugte ihn von der Seite, bis er sich genötigt fühlte, sie zu begrüßen.
    »Armer Giovanni!«, rief sie daraufhin und schüttelte den Kopf. »Was für eine Art, aus dem Leben zu scheiden!«
    Contini nickte.
    »Aber sagen Sie«, fuhr die Greisin fort, »sind Sie einer der Vettern aus Biasca, oder gehören Sie zu den Fasnachtlern?«
    »Pardon?«
    Die Alte blickte ihn mit scharfen schwarzen Äuglein von unten herauf an.
    »Ja, ich hab mich schon gefragt, ob Sie ein Verwandter sind, mir scheint, ich hab Sie noch nie …«
    »Nur ein Bekannter«, fiel ihr Contini ins Wort.
    »Ah. Von der Fasnachttruppe, der Band?«
    »Äh. Nein. Tut mir leid, ich …«
    »Entschuldigen Sie, Signor Contini«, schaltete sich Rosa Pellanda ein, »darf ich Sie für einen Moment entführen?«
    Contini folgte ihr in die Küche.
    »Danke, dass Sie mich dem Verhör entzogen haben«, sagte er.
    »Keine Ursache.« Signora Pellanda warf ihm ein rasches Lächeln zu. »Tante Agata ist seit fünf Stunden hier und wird sicher nicht gehen, solange immer wieder neue Beute eintrifft.«
    »Also ich bin jetzt wohl eingeordnet …«
    »Danke für Ihren Besuch.« Signora Pellanda drehte den Wasserhahn auf, um sich die Hände zu waschen. »Aber ich wollte Sie tatsächlich was fragen: ob die Polizei denn Ihnen Genaueres … Ich meine, Giovanni … es war doch ein Unfall, oder?«
    Signora Pellanda sprach hastig. Energisch drehte sie den Wasserhahn wieder zu und trocknete sich die Hände ab.
    »Ich weiß leider gar nichts«, sagte Contini.
    »Mir scheint, die Polizei geht von Mord aus.«
    »Davon weiß ich nichts«, antwortete Contini und sah sie an. »Hatte Ihr Mann denn Feinde?«
    »Nein.« Signora Pellanda riss die Augen auf. »Nein, er hatte nie … Wie kann das denn sein? Sicher, dreißig Jahre in der Politik, da gibt es schon mal böses Blut, aber dann … Wer wäre denn zu so etwas fähig gewesen?«
    Signora Pellanda sank auf einen Küchenhocker und stützte die Ellenbogen auf die blanke Tischplatte. Schweigend setzte sich Contini zu ihr. Insgeheim war er überzeugt, dass Pellanda ermordet worden war. Das war kein Ergebnis scharfen Nachdenkens, sondern irgendein dumpfes, ungreifbares Gefühl. Wie ein Hintergrundrauschen, so hartnäckig, dass es sich in alle Gedanken hineindrängte.
     
    Der Ingenieur Alessandro Vassalli scheute Auseinandersetzungen. Er war stets ein Befürworter des Staudamms gewesen:

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