Am Grund des Sees
ziemlich laut geworden; sie war es, die ihm diese trüben Gedanken eingab …
»Wer spielt denn da?«, fragte er laut.
Es war eine gemächliche Melodie, die um sich selbst kreiste und sich ausbreitete wie Wellen über die Oberfläche eines Tümpels, in den ein Stein gefallen ist. Vassalli erkannte die Klangfarbe des Saxophons. Er blieb kurz stehen, zog seine Wiesenverkleidung fester um sich - bei dieser klagenden Musik überlief es einen kalt. Und sie kam nirgendwo her, diese Gespenstermusik! Vassallis Schritte wurden immer langsamer.
An einem frühen Februarmorgen eine Person zu finden, die als Blumenwiese verkleidet ist, dürfte nicht allzu schwierig sein. Aber während der Fasnacht ist bekanntlich alles anders. Der erste Grüngekleidete, den Contini aufhielt, sagte leicht gekränkt: »Wieso denn Wiese, was für eine Wiese, siehst du nicht, dass ich ein Krokodil bin?«
Dann sichtete er einen Knaben, der mit seiner blümchen-übersäten Tunika wirklich eine Wiese zu sein schien, in seinem Rausch aber nicht die leiseste Ahnung hatte, wo Vassalli war.
»Ah«, nuschelte er, »unser Dicker. Die Basstuba …«
»Wo hast du ihn zuletzt gesehen?« Contini legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Was willst du denn von mir?« Der Knabe befreite sich mit einem Ruck. »Weiß ich doch nicht, wo ich ihn gesehen habe, spinnst du, oder was?«
Contini ließ ihn ziehen. Immer auf der Suche nach einem grünen Kostüm ging er rasch an den Zelten auf der Piazza del Sole vorbei, zwängte sich zwischen den Leuten hindurch, die sich in der Via Codeborgo stauten, musterte die Gesichter der Betrunkenen vor den Bars und störte die Pärchen in den dunklen Winkeln.
»Tschuldigung, sind Sie von der Spacatesta-Band?«
»Was denn, was denn, erinnerst du dich nicht?«
»Hast du Sandro Vassalli gesehen?«
»Dort!«
»Wo dort?«
»Na dort - eben. Irgendwo unterwegs. Was weiß ich. Ciao, gell, ciao, Hübscher.«
Sandro Vassalli war völlig gebannt von dieser Musik. Das Saxophon spielte langsam, ließ die tiefen Töne tremolieren und schraubte sich so hoch hinauf, dass es qualvoll wurde. Vassalli spürte den Gurt der Tuba einschneiden, sein Atem ging flach.
Eine Folter war diese Musik.
Die Via Lugano war beinahe menschenleer, nur ein paar Maskierte strebten heimwärts. Auf dem Parkplatz der Grundschule standen noch wenige Autos, darunter Vassallis Wagen.
Doch er ging nicht zu seinem Auto, sondern spähte in den Eingang der Unterführung rechts von ihm, denn dort war des Rätsels Lösung: Daher kam die Musik! Jemand spielte in der Unterführung der Via Lugano Saxophon.
Und was für eine Musik! Eine Kaskade von Tönen voller Nostalgie, ein Klang, der erstarb und matter, gehaucht, wieder einsetzte, wie ein zurückkehrender Schmerz … Vassalli legte die Hände an die Schläfen. Welchem Idiot fällt es ein, morgens um sechs in einer Unterführung Musik zu machen?
Er stellte seine Tuba ab und ging die Treppe hinunter. In der Dunkelheit sah er das Messing des Saxophons schimmern und erkannte den Umriss einer männlichen Gestalt, die am gegenüberliegenden Ende der Tunnelröhre an der Mauer lehnte.
»Hey!«, rief er. »Hey, wer bist du?«
Francesca war sich darüber im Klaren, dass Contini kein Typ für die Fasnacht war. Eigentlich war auch sie nicht übermäßig begeistert. Aber es war eine soziale Pflicht - alle ihre Freunde gingen nach Bellinzona, kostümierten sich, ließen es sich gut gehen -, und wie jedes Jahr fiel es ihr anfangs nicht ganz leicht, so aus sich herauszugehen, nach einer Weile aber ließ sie sich doch mitreißen. Sie tanzte gern, gab sich dem Rhythmus hin und vergaß die Müdigkeit, das von allen Seiten heranrückende Gedränge.
Durch das Zelt auf der Piazza Governo dröhnte eine Remix-Version des alten Schlagers Gianna. Francesca und Sara tanzten neben dem Tresen. Ma la notte la festa è finita, evviva la vita - Sara schlug mit einem Blick einen Drohn in die Flucht, der sie umschwärmte - la gente si sveste, comincia un mondo, un mondo diverso, ma fatto di sesso, chi vivrà vedrà .
»Wo ist denn dein Contini?«, fragte Sara.
»Draußen, sich die Beine vertreten.«
»Amüsiert er sich denn?«
»Na, du weißt ja, wie er ist …«
Sara hatte wie Francesca keine spezielle Verkleidung, sondern trug viele bunte Fetzen, wie eine Zwiebel in Schichten übereinander gezogen, damit sie sich innerhalb und außerhalb der Zelte aufhalten konnte, ohne sich zu erkälten. Denn Sara war eine patente Person. Nach
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