Am Grund des Sees
glaub nicht. Aber jetzt, wo ich dran denke - ihr habt euch doch während der Fasnacht getroffen, ich war doch dabei!«
»Ja. Er spielt in derselben Band, in der auch Vassalli war. Die Polizei hat ihn sicher vernommen.«
Eine Zeitlang fuhren sie schweigend dahin. Dann sagte Contini: »An dem Abend hat er gesagt, er freut sich, dass wir uns nach so vielen Jahren wiedersehen. Und er hat gefragt, warum ich von Malvaglia und vom Stausee weggezogen bin.«
Das hatte er mehr vor sich hin gesprochen, doch Chico wagte eine Frage: »Sie beide kennen sich aus der Kindheit, ja?«
»Wir sind zusammen aufgewachsen«, antwortete der Detektiv. »Das ist ja der Grund, weshalb ich ebenso gut der Mörder sein kann: Wir haben die gleiche Geschichte.«
Chico kannte zwar Tommaso Portas Adresse, aber in den Straßen oberhalb von Malvaglia war es stockfinster: Um die Namen auf den Briefkästen zu entziffern, musste man aussteigen. Als sie endlich das richtige Haus gefunden hatten, hielten sie ein Stück entfernt und besprachen, wie sie sich verhalten sollten.
»Vielleicht ist es besser, Sie bleiben da«, sagte Chico.
»Finde ich nicht«, antwortete Contini. »Es ist sicherer, wenn ich mitgehe.«
»Aber ich kann meinen Besuch begründen, Sie hingegen …«
»Tommi ist doch kein Idiot! Es ist neun Uhr abends - nicht unbedingt die Zeit, zu der Anwälte ihre Mandanten besuchen, oder?«
»Schon, aber ich könnte ihn beschwichtigen.«
»Und wenn es nicht gelingt? Muss ich Sie daran erinnern, dass er bereits drei Morde begangen hat?«
»Das steht überhaupt noch nicht fest.«
»Das werden wir sehen!«
Sie stiegen aus. Im Erdgeschoss brannte Licht, aber die Fensterläden waren so weit zugezogen, dass kein Blick ins Zimmer möglich war.
Ehe er auf die Klingel drückte, blickte Contini zum Berg hinauf, dessen dunkle Masse undeutlich hinter der Staumauer aufragte. Dort hinter dem Betonblock, tief unter dem Wasserspiegel lagen die Wiesen, über die Tommi und er sommers im Sonnenschein und winters im Schnee gerannt waren, bis sie außer Atem waren. Und dort lag, in einer Truhe im Keller, Ernesto Continis Leiche.
»Worauf warten wir?«, fragte Chico.
»Auf nichts«, sagte Contini und drückte auf die Klingel.
Nichts geschah. Contini musste daran denken, wie er zwei Tage zuvor ebenfalls vor einer Haustür gestanden und gewartet hatte, vor dem Haus von Adele Fontana. Damals wie jetzt war hinter der Tür ein Mörder.
»Vielleicht schläft er«, sagte Chico. »Dabei meine ich was gehört zu haben …«
Contini läutete noch einmal, länger.
Unterdessen war das Schneegestöber dichter geworden. Wie auf einem Weihnachtsbild schwebten die Flocken gemächlich durch den Lichthof der Straßenlaternen herab.
»Da rührt sich nichts«, sagte Chico. »Was tun wir?«
»Wir versuchen es hinten.«
Contini war müde. Die nervliche Anspannung hielt ihn auf den Beinen, doch sein Kopf war bleischwer, und wenn er sich schnell bewegte, musste er gegen Schwindel ankämpfen. Die Hintertür war zwar verschlossen, aber das Schloss ein einfaches Modell mit Schließblech.
»Jedes Mal, wenn ich solche Dinge tue«, murmelte Contini, während er in seinen Taschen grub, »hab ich einen Anwalt bei mir.«
»Was für Dinge?«
»Hausfriedensbruch. Was war das noch mal? Artikel 186, glaub ich …«
Der Detektiv förderte aus seiner Hosentasche einen gekrümmten Haken und ein Mehrzwecktaschenmesser zutage. Damit begann er das Schloss zu bearbeiten.
»He, Moment mal!«, flüsterte Chico beunruhigt.
»Seien Sie still«, antwortete Contini, und nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür. Contini trat auf leisen Sohlen ein und ließ den verdutzten Anwalt draußen stehen. Doch kurz darauf war der Detektiv wieder da und sagte: »Kommen Sie rein.«
Sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. Chico folgte Contini durch einen langen Flur bis zu einer Tür, unter der Licht schimmerte.
»Fassen Sie nichts an«, befahl der Detektiv.
»Natürlich nicht, aber was haben Sie denn vor?«
Statt einer Antwort stieß Contini die Tür auf. Sie standen auf der Schwelle eines taghell erleuchteten Wohnzimmers, in dem mindestens vier, fünf Lampen an verschiedenen Stellen brannten. Und in der Mitte des Raums erblickte Chico den in einem Sessel zusammengesackten Tommaso Porta.
Das Kinn lag auf seiner Brust, und ein dünner Faden Blut war aus dem halb geschlossenen Mund geronnen. Die weit aufgerissenen Augen starrten auf den Teppich, als betrachtete Porta voller Grauen einen
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