Am Grund des Sees
sich in seine Hängematte fallen. Seine Gedanken schweiften wieder ab; in letzter Zeit fiel es ihm zunehmend schwer, sich auf ein Thema zu konzentrieren. Die Polizei hatte ihn am Tag zuvor, nach der Tat, und heute noch einmal vernommen, mehr als sechs Stunden lang. »Nachdem ihn die Polizei jedoch wieder laufen ließ, ist es denkbar, dass sie ihn für unschuldig hält.« So der Nachrichtensprecher vor einer halben Stunde im Radio; und diese Formulierung »für unschuldig hält « klang eigentlich, wenn man es recht bedachte, wie eine Verurteilung.
Es läutete. Das war Malfanti. Der bei Continis Anblick mit dem Ausdruck befremdeten Erschreckens ausrief: »Contini! Was ist denn mit Ihnen passiert?«
Der Detektiv lächelte.
»Was denken Sie denn?«
Chico nickte. »Hat die Polizei Sie misshandelt?«
»Wir sind doch nicht im Krimi!«
»Na dann …«
»Dann bin ich der Mörder, wie es aussieht.«
Chico zwinkerte, sagte aber nichts.
»Nur noch eine Frage der Zeit, bis sie mich verhaften«, sagte Contini. »Es sei denn …« Er ließ den Satz unvollendet.
Aber Chico schüttelte den Kopf: » Sie sagen, dass wir hier nicht im Krimi sind. Den Mörder zu finden sollten Sie deswegen lieber der Polizei überlassen, nicht?«
Contini sah ihn wortlos an, und Chico begriff, dass er einen Verzweifelten vor sich hatte. Die Augen rot gerändert und tief in den Höhlen, die Wangen eingefallen, sah Contini aus wie einer, der seit Tagen kaum gegessen und geschlafen hat.
»Na gut«, sagte Chico, nachdem er hereingekommen war und Platz genommen hatte. »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann...«
Contini holte zwei Bier und reichte Chico das eine. Dann sagte er: »Die Polizei hat sich von einem Psychiater ein Gutachten erstellen lassen. Danach sei der Mörder ein Irrer, der den Staudamm hasst und sich rächt.«
»Und was haben Sie damit zu tun?«
»Mein Vater ist unmittelbar nach dem Ausbau des Sees vor zwanzig Jahren verschwunden. Nach Ansicht der Experten hätte ich eine dissoziative Identitätsstörung. Also so was wie eine gespaltene Persönlichkeit. Und ich hätte aus dem Staudamm beziehungsweise dessen Erbauer den Sündenbock für meine Probleme gemacht und Rache gesucht.«
»Und das glauben Sie?«
»Fragen Sie mich, ob ich der Mörder bin?«
»Nein, das heißt, ich …«, verhaspelte sich Malfanti und verstummte.
Contini blickte wortlos zum Fenster hinaus. Aus ein paar Schritten Entfernung sah er nichts als sein Spiegelbild in der Glasscheibe, erst als er nah ans Fenster trat, konnte er sehen, was draußen vor sich ging. Die Verandalampe schwang im Wind, und das beleuchtete Schneegestöber sah aus wie ein Mückenschwarm.
»Ich habe niemanden umgebracht«, sagte Contini und machte einen Schritt rückwärts. »Aber das psychiatrische Gutachten könnte durchaus auch auf mich zutreffen: um die fünfunddreißig, alleinstehend, früheres Trauma im Zusammenhang mit dem Staudamm, misstrauischer, menschenscheuer Charakter …«
»Das sind doch Banalitäten.«
»Mag sein, aber wenn sie stimmen? Dann muss man nur noch die dazu passende Person finden … das ist wie ein Spiegel, verstehen Sie?«
Wieder musterte er sein Gesicht in der Fensterscheibe, und wieder fielen ihm die Worte des alten Jonas ein. Er war das Spiegelbild. Und wer spiegelte sich?
»Man muss einen zweiten wie mich finden«, sagte Contini. »Sie müssten herausfinden, wer unter den Staudammgegnern das sein könnte.«
»Wer sagt, dass es einer von ihnen ist?«
»Fangen wir wenigstens mit ihnen an. Um die fünfunddreißig, lebt allein - einer, der mir ähnlich ist, verstehen Sie?«
Chico stellte die Bierflasche auf den Teppich. Dann blickte er langsam auf. Seine Augen waren geweitet.
»Tommaso Porta«, murmelte er. »Aber das gibt’s doch nicht …«
18
Der Kindheitsfreund
Es wollte kein rechtes Gespräch in Gang kommen.
Chico steuerte schweigend seinen Peugeot, während Contini die eine oder andere Frage nach Porta stellte. Aber Chico war noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Wieso hatte er nicht früher daran gedacht? Da lag die Wahrheit zum Greifen nah, und er erkannte sie nicht. Alles starrte auf Contini, und kein Mensch dachte an seinen alten Freund, an Tommaso Porta mit seiner Liebenswürdigkeit und seinen unvorhersehbaren Wutausbrüchen.
»Hat er mal mit Ihnen über mich gesprochen?«, fragte Contini.
»Weiß ich nicht mehr. Vielleicht flüchtig.«
»Und über den Bürgermeister Pellanda, über Vassalli, über Desolina?«
»Ich
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