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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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wenigstens die Journalisten ein bisschen ab, dachte Contini im Stillen. Das Sturmtief werde insbesondere die Alpensüdseite treffen, fuhr der Meteorologe fort, man rechne mit bis zu 70 Zentimetern Neuschnee. Die Straße, der Wald, der Berg waren schon jetzt nicht mehr zu sehen, die Welt war nichts als ein weißes Gewirbel, das im Scheinwerferlicht fortwährend neu aufschien und wieder zurücksank. In den Bergen, tönte es aus dem Radio, betrage die Windgeschwindigkeit an die hundert Stundenkilometer.
    »Sie können mich hier aussteigen lassen«, sagte Contini. »Ich bin ja gleich zu Hause. Sind Sie sicher, dass Sie noch heimfahren wollen?«
    »Ja, klar, keine Sorge.«
    Contini blieb stehen und sah ihm nach, während Malfantis Auto davonfuhr und bereits nach wenigen Metern im Schneegestöber verschwunden war. Dann zog er seinen Hut tiefer in die Stirn und machte sich auf den Heimweg.
    Er würde Pancho bitten, der Polizei einen anonymen Hinweis zukommen zu lassen. Wenn sie Porta fanden, hätte sich die Liste der Toten im »Fall Malvaglia« abermals verlängert, auch wenn dieser letzte Tod ein Selbstmord war. Oder würden sie auch in diesem Fall von Mord ausgehen? Einer mehr oder weniger machte freilich kaum einen Unterschied …
    Der Kater schlief zusammengerollt in einem Sessel. Contini legte Hut und Mantel ab und rief sofort Pancho an. Der Fotograf, diskret wie immer, stellte keine Fragen, sondern versprach, am nächsten Morgen die Polizei zu verständigen. Contini dankte ihm; dann förderte er aus der Tiefe der Küchenkredenz eine Flasche Grappa zum Vorschein, nahm sie mit ins Wohnzimmer und war im Begriff, den Korken herauszuziehen, als ihm das Schrillen des Telefons wie ein stechender Schmerz in den Kopf fuhr. Hastig griff er danach.
    »Hallo, Contini? Malfanti hier.«
    »Ah! Sind Sie stecken geblieben?«
    »Nein, sondern mein Chef hat zurückgerufen, und er hat keine Sendung erhalten.«
    »Sehr schade«, sagte Contini. »Vielleicht kommt sie ja noch.«
    »Vielleicht.«
    Ein Schweigen trat ein. Contini meinte zu spüren, dass der Anwalt noch etwas auf dem Herzen hatte, und wirklich sagte Chico: »Ich weiß nicht, ob es Sie interessiert, aber mir ist eine Idee gekommen, auf wen Herr A schießen sollte.«
    »Wie?«
    »Sie wissen doch - das Rätsel, das bei Porta auf dem Tisch lag, erinnern Sie sich? A, B und C wollen sich duellieren und schießen nacheinander, als Erster A, der sein Ziel nur jedes dritte Mal trifft …«
    »Ja, ja! Und?«
    »Also, wir wissen, dass C nie danebenschießt und B von drei Schüssen einen versiebt. Wenn A auf B schießt und ihn trifft und dann C an der Reihe ist, dann ist A ein toter Mann.«
    »Ja, schon, aber …«
    »Warten Sie. Wenn er hingegen auf C schießt und ihn trifft und dann B dran ist, der nur zwei von drei Mal richtig schießt, dann hat A eine größere Chance zu überleben und noch mal zu schießen.«
    »Ich verstehe Bahnhof.«
    »Geduld. Die zweite Strategie ist also schon mal eine bessere, aber es gibt noch eine dritte: A könnte in die Luft schießen, richtig?«
    »Wozu denn - ich denke, er will sich duellieren?«
    »Dann wäre B an der Reihe, der auf C schießen würde, denn das ist der gefährlichste Gegner. Wenn C überlebt, schießt er auf B, und das heißt: Wenn A in die Luft schießt, gibt er den anderen beiden die Möglichkeit, sich gegenseitig zu eliminieren, und reduziert damit die Zahl der Duellanten auf zwei. Somit wächst seine Überlebenschance.«
    Chico schwieg endlich, und Contini stieß einen Seufzer aus: Der Reifen um seinen Kopf fühlte sich inzwischen an wie glühendes Eisen, und es fehlte ihm jeder Sinn für logische Übungen.
    »Danke, Malfanti, das ist wirklich interessant: Herr A schießt also in die Luft, um seine Überlebenschance zu erhöhen. Philosophisch. Rufen Sie mich an, wenn Sie morgen Post von Desolina bekommen?«
    »Sicher. Keine Sorge.«
    »Dann gute Nacht! Und kommen Sie gut nach Hause!«
    Contini legte das Telefon ab, als wäre es weißglühend. Er betrachtete den grauen Kater, der nach wie vor reglos schlief.
    »Es hat eine Schweinekälte, Kater«, sagte er und ließ sich in die Hängematte fallen.
    Der Kater reagierte mit keinem Zucken des Ohres.
    Contini spürte die Müdigkeit in den Schultern und im Rücken wie einen Kälteschauder. Als er die Augen schloss, bohrte sich ihm ein Schmerz in den Scheitelpunkt des Kopfes. Im Liegen wurde es besser, aber das Schaukeln der Hängematte ging ihm auf die Nerven. Er stand wieder auf und trat

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