Am Grund des Sees
doch, sagen wir lieber, dass wir irgendwann in den letzten Tagen da waren, um uns mit Porta zu unterhalten.«
»Aber …«
»Wenn ich De Marchi erzähle, dass ich die zweite Leiche in zwei Tagen entdeckt habe, dann locht er mich sofort ein.«
»Aber das Türschloss?«, fragte Chico.
»Das war er selbst - wer sperrt sich nicht gelegentlich aus?«
»Aber die Entdeckung einer Leiche nicht zu melden ist ungesetzlich«, versuchte Chico einen neuerlichen Einwand.
»Ja.«
Der Anwalt seufzte. »Also gut, ich sag nix. Aber ich hoffe … ich hoffe wirklich , Sie können bald was beweisen.«
»Ich auch, glauben Sie mir! Jetzt gehen wir.«
Auf der Rückfahrt schlief Contini beinahe ein. Er wandelte auf einem schmalen Grat zwischen Wachen und Schlafen dahin, durch seinen Kopf waberten verworrene Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart. Im Schneegestöber draußen vor der Windschutzscheibe überblendeten sich Tommis totes Gesicht, das alte Haus, die finstere Miene des Kommissärs De Marchi …
Das Schrillen des Telefons ließ ihn zusammenfahren. Hektisch tastete er danach und rief hinein: »Ja! Contini!«
»Guten Abend, Signor Contini. Hier ist Adele Fontana.«
»Guten Abend. Wie geht’s Ihnen?«
»Na ja. Jedenfalls rufe ich Sie an … also, es geht um Desolina.« Eine Pause. »Sie hat doch alles Mögliche aufgeschrieben, Sachen, die sie Ihnen … Und am Abend vor … vor ihrem Tod hat sie zu mir gesagt, sie sei jetzt fertig.«
Contini fragte sich, ob auch Signora Fontana ihn für schuldig hielt. Sie war liebenswürdig, doch in ihrem Tonfall schwang unverkennbar Furcht mit. »Vielen Dank, dass Sie mir Bescheid sagen«, sagte er.
»Aber sie hat mir nicht gesagt, wo sie ihre Aufzeichnungen aufbewahrt hat. Möglich, dass sie Ihnen ein Päckchen mit der Post geschickt hat. Sie hat auch mal erwähnt, sie würde sie gern bei einem Anwalt deponieren, damit sie gut aufgehoben seien; ich weiß, dass sie den Rechtsanwalt Calgari kennt - vielleicht hat sie sich ja mit ihm in Verbindung gesetzt. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht mehr sagen kann …«
»Kein Problem«, sagte Contini rasch. »Sie haben mir schon sehr geholfen. Das ist wirklich wichtig für mich.«
»Ja, Tante Desolina hätte schon gewollt, dass ich es Ihnen sage, glaub ich.«
Der Detektiv bedankte sich noch einmal und verabschiedete sich, dann wandte er sich an Chico, erklärte ihm alles und fragte zuletzt: »Haben Sie denn eine Sendung erhalten?«
»Glaube nicht. Aber vielleicht war sie an den Chef persönlich adressiert.«
»Könnten Sie ihn vielleicht fragen?«
»Jetzt? Bisschen spät, oder?«
»Sagen Sie, dass ich Sie drum gebeten habe, sagen Sie, dass ich Ihnen wahnsinnig auf den Wecker damit gehe, und Sie nicht mehr wissen, wie Sie sich meiner erwehren sollen. Schließlich bin ich doch wahnsinnig, oder?«
»O je.« Chico wand sich vor Verlegenheit. »Also gut. Ich könnte ihn mobil anrufen.«
Calgari aber meldete sich nicht.
»Es läutet immerhin«, sagte Chico. »Vielleicht ruft er ja zurück.«
Inzwischen hatten sie die letzten Serpentinen vor Corvesco erreicht. Es schneite heftig, Chico fuhr sehr langsam, mit Fernlicht, und den Straßenverlauf vor ihm musste er sich mehr vorstellen, als dass er ihn wirklich erkennen konnte.
»Hoffentlich komm ich noch nach Haus«, murmelte er.
»Wenn es so weiterschneit, weiß ich nicht …«
»Sie können bei mir übernachten, wenn Sie wollen«, sagte Contini.
»Ich fahr lieber heim«, antwortete Chico. Sein Ton war höflich, aber Contini war nicht entgangen, wie hastig die Ablehnung erfolgt war. »Ich werd’s schon schaffen.«
»Wie Sie wollen.«
Eine Minute später schaltete Chico das Radio ein. Die Nachrichten meldeten den Tod von Desolina, der mit den Morden an Pellanda und Vassalli in Zusammenhang gebracht wurde. Das Bindeglied - der trait d’union , sagte die Sprecherin - sei »ein gewisser Elia Contini, angeblicher Privatdetektiv, welcher in die Kungeleien rund um den Ausbau des Stausees von Malvaglia verstrickt sein soll«.
Nach weiteren trivialen Meldungen kam der Wetterbericht, der aus gegebenem Anlass eine »Unwetterwarnung« aussprach, und es folgte eine Schaltung zum Tessiner Wetterdienst, dem Observatorium in Locarno-Monti. Chico drehte lauter und murmelte vor sich hin: »Jetzt kommt tatsächlich noch ein Schneesturm.«
Die Stimme eines Meteorologen bestätigte, dass im Lauf der Nacht auch im Flachland heftiger Schneefall zu erwarten sei. Vielleicht lenkt das scheußliche Wetter
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