Am Grund des Sees
darf Sie daran erinnern, dass Ihnen das Gesetz nicht das Recht einräumt, mir …«
»Ja, schon recht«, brachte ihn der Kommissär zum Schweigen. »Was sollen Sie auch sonst sagen. Gehen Sie, Malfanti, und gehaben Sie sich wohl.«
Um einen selbstsicheren Eindruck bemüht, stand Chico langsam auf. In Wirklichkeit war er eingeschüchtert. Die Polizei hatte zwar die Liste der Anrufe auf Continis Mobiltelefon, kannte zum Glück aber nicht den Inhalt des Gesprächs. Nicht zum ersten Mal beschlich ihn der Verdacht, dass Contini mancherlei verheimlichte.
»Schauen Sie, Herr Kommissär, ich weiß über Contini nicht mehr als Sie. Wenn Sie Beweise gegen ihn haben, warum nehmen Sie ihn dann nicht fest?«
»Wer sagt denn, dass wir ihn nicht festnehmen?«
Der Kommissär betrachtete ihn mit resignierter Miene, wie ein Vater, der zum hundertsten Mal dieselbe Frage seines Sohns beantwortet.
»Also glauben Sie wirklich, dass Contini … Aber wieso denn …?«
»Ich will Sie nicht länger aufhalten.« De Marchi stand auf. »Schönen Tag noch.«
Chicos Befürchtungen wuchsen.
»Hat er denn gestanden?«
»Wiedersehen, Herr Anwalt«, sagte De Marchi fest. »Und halten Sie sich zur Verfügung.«
Contini träumte ein Kopfweh. Im Traum ging er durch den Flur im Haus von Malvaglia, ging immer auf und ab und versuchte sein Kopfweh zu vergessen. Er wusste genau, dass es nur ein Traum war, doch der Schmerz störte ihn enorm.
Er konnte aufwachen. Er musste sich nur einen Ruck geben, und das Kopfweh wäre fort. Aber dann wäre auch das Haus fort. Und Contini wollte seinen Vater wiedersehen. Er hörte Hammerschläge aus dem Keller, wo der Vater seine Schreinerwerkstatt hatte. Immerzu baute oder reparierte er irgendetwas. Als Kind dachte Contini, sein Vater mache absichtlich Dinge kaputt, nur um sie wieder richten zu können.
Wer weiß, vielleicht stimmte das ja … Jetzt konnte er ihn fragen. Er musste nur in den Keller hinuntergehen. Die Hammerschläge wurden lauter; sie spalteten ihm den Schädel. Eine Stufe nach der anderen.
Bis hinunter in den Keller.
Dort war zu viel Licht. Durch die Tür kam ein gleißendes Licht, er konnte nicht mehr schlafen. Der Traum begann sich zu verflüchtigen. Noch war er im alten Haus, doch die Bilder verblassten, schon begann er an Corvesco zu denken, an sein Bett. Seine Kehle war ausgedörrt, und er schwitzte unter der Decke.
Als er wach war, stach ihn ein rhythmischer Schmerz in den Kopf.
Erst dieses Kopfweh rief ihm den Traum in Erinnerung. Normalerweise erinnerte er sich selten an Träume. Vorsichtig setzte er sich auf, stellte die Füße auf den Boden und wartete, bis das Zimmer sich nicht mehr drehte. Zwischen zwei Schmerzattacken kamen ihm die Ereignisse des zurückliegenden Tages in den Sinn. Er hatte wieder eine Leiche gefunden: Das wurde schon zur Gewohnheit. Erst Vassalli, dann die beiden Mumien auf dem Grund des Sees, dann Desolina, jetzt Tommi. Er war in einen Teufelskreis der Toten geraten.
Er ging ins Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne laufen. Nur ein heißes Bad konnte den Nebel in seinem Gehirn vertreiben: Er hatte das Gefühl, dass sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Würde die Polizei denn an Tommis Schuld glauben?
Contini hatte seine Zweifel. Barfuß, schaudernd vor Kälte, ging er in die Küche, setzte Kaffee auf, öffnete auf der Suche nach etwas Essbarem den Kühlschrank. Und schloss ihn gleich wieder: Allein beim Gedanken an Essen wurde ihm schlecht. Er setzte sich auf einen Hocker. Die Müdigkeit hing an ihm wie ein Bleigewicht.
Der Kater strich um seine Beine, und Contini streckte die Hand nach ihm aus. Allein davon drehte sich ihm der Kopf.
Während der Kater zu schnurren anfing, dachte Contini an Francesca. Vielleicht hielt wenigstens sie ihn nicht für einen Mörder? Vielleicht. Aber bald würde kein Mensch mehr an seine Unschuld glauben. Er war ja der perfekte Täter: Der teilnahmslose, einzelgängerische Detektiv verschließt sich gegen die Welt und beginnt einen erbarmungslosen Rachefeldzug …
Ein kalter Luftzug streifte seinen Rücken, er nieste. Das fehlt mir noch zu meinem Glück, dachte er, eine nette Grippe. Er betrachtete seine bloßen Füße auf den Fliesen, aber aufzustehen kostete ihn große Überwindung. Durch das Küchenfenster fiel weißes Tageslicht herein.
Der Kaffee kochte. Er schenkte sich eine Tasse ein und kehrte ins Bad zurück, um das Wasser abzudrehen; die Wanne war voll. Bevor er hineinstieg,
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