Am Hang
überlegte, sie sagte: Warum eigentlich nicht. – Sie blieb bis zwei Uhr morgens, ich kann dir sagen, es war traumhaft.
Ach Gott, sagte Loos, wie frei ihr alle seid! – Du bist es ja auch, sagte ich, und als reifer Beschützertyp könntest du, wenn du nur wolltest, so viele Frauen wie Finger haben, auch und gerade junge. – Ja, sagte Loos, frei bin ich, und nichts scheint mir wertloser. Der graue Satz stammt leider nicht von mir, obwohl er mich exakt ausdrückt. Dies nebenbei. Wie war sie denn im Bett? – Verunsichert sah ich Loos an. Die Frage paßte nicht zu ihm, weshalb ich glaubte, er stelle sie, um sich über mich und mein Heldentum lustig zu machen, vielleicht aber auch, um mein Niveau zu testen. Mit etwas Unmut sagte ich, ich hätte nicht den Eindruck, daß ihn die Antwort interessiere. – Du hast mir Spannendes aufgetischt, sagte er, das Dessert aber willst du mir verweigern? – Ich lachte und sagte: Nun gut, von Mann zu Mann, sie war phantastisch, sie war, wie soll ich sagen, auf seltsam reservierte Weise leidenschaftlich und schrie wie mit verbundenem Mund. Genügt dir das? – Vollkommen, sagte Loos. Er trank, verschluckte sich und hustete. Er fragte mit belegter Stimme: Wie ging die Sache weiter? Wie endete sie und warum? – Ich würde jetzt gern eine Pause machen, sagte ich, und wieder dir zuhören. – Ganz wie du meinst, du mußt mir allerdings helfen: Wo bin ich stehengeblieben? – Schwer zu sagen, du hast mir zuletzt noch erzählt, wie du und deine Frau mit Hilfe zweier Hunde zusammengekommen seid. Nur war das eher ein Exkurs, und stehengeblieben bist du eigentlich vorher: bei der Krankheitsgeschichte deiner Frau.
Richtig, ja, beim Astrocytom. Als ich ihr sagte, astro komme vom griechischen astron und bedeute ›Gestirn‹, während cytus lateinisch ›Zelle‹ bedeute und vom griechischen kytos gleich ›Höhlung‹ abstamme, da lächelte sie träumerisch und sprach nicht mehr von Geschwulst oder Tumor, sondern vom Stern in ihrer Schädelhöhle oder einfach von ihrem Stern. Mein Stern, sagte sie fortan, und nicht: mein Tumor. Und da sie mitunter ein wenig verstiegen war, sagte sie auch, ein Stern könne niemals ihr Feind sein. Es schien ja tatsächlich auch so – ich habe es angedeutet –, als ob sie dem möglichen Tod nicht schreckensstarr ins Auge blicke, sondern irgendwie beinahe zärtlich. Eine Zeitlang befürchtete ich, daß sie sich einer Operation verweigern könnte, was sie, von den Symptomen schwer gequält, zum Glück dann doch nicht tat. Man wußte übrigens nicht, ob die Geschwulst gut- oder bösartig war, das konnte erst der Eingriff zeigen, der uns, aufgrund der günstigen Lage des Tumors, als aussichtsreich geschildert wurde und bestenfalls auch eine Nachbehandlung mit Strahlen- oder Chemotherapie unnötig machen würde. In dieser nicht sehr langen Zeit des Wartens besorgte ich den Haushalt und las Bettina alle Wünsche von den Augen ab. Letzteres war zwar nicht neu, das erstere schon eher. Ich kaufte mir ohne ihr Wissen ein Kochbuch, ein vegetarisches natürlich, studierte es in der Schule während der Klassenarbeiten, notierte mir die Zutaten, kaufte das Nötige ein und überraschte meine Frau fast jeden Abend mit einem raffinierten kleinen Menü. Ihr Appetit war allerdings gering, der meinige ohnehin, denn meine ständige Angst vor dem Schlimmsten und eigentlich Unvorstellbaren schien meine Luft- und Speiseröhre einzuengen. Es war eine unschöne Zeit. Es war auch eine schöne Zeit. Wir hatten uns noch. Wir waren vereinigt. Ich war erleichtert und froh, als ich Bettina in einem Buch lesen sah, das den Titel Die hundert Schritte zum Glücklichsein trug. Es zeigte mir, daß sie nicht abgeschlossen hatte, daß sie dem Leben noch zugewandt war. Es brachte mich zugleich ins Grübeln, da ich mich fragen mußte, warum sie ein solches Buch konsultierte. Sie war, von ihrem momentanen Leiden abgesehen, doch immer glücklich gewesen. Auch mit mir. Vielleicht nicht immer, klar, Glück ist kein Dauerzustand, sonst könnte man es gar nicht mehr als Glück empfinden, nicht wahr, nur Unglück ist ein Dauerzustand, wie es scheint, kurzum, sie las ein solches Buch und konnte völlig unvermittelt zu mir sagen, sie wünsche keinen Grabschmuck und insbesondere keine Kränze und keine sogenannten Grabgestecke mit Tannenzapfen und so weiter, das alles sei schauderhaft. Geschmackliche Differenzen hatten wir selten und diesbezüglich nicht, und doch blieb mir die Sprache weg, wenn sie so
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