Am Helllichten Tag
alten Menschen weniger vermissen als einen jungen. Julia fehlt ihre Großmutter aber schon jetzt so sehr, dass sie nicht weiß, wie sie den Verlust ertragen soll. Ihr graut vor den kommenden Wochenenden, wenn sie nicht durch Arbeit abgelenkt ist und keine Besuche mehr in Sint Odilienberg machen kann.
Das Leben geht weiter, Kind.
Diese Worte hört sie plötzlich im Kopf. Sie weiß, es sind ihre eigenen Gedanken, und doch ist ihr, als würde ihre Großmutter es sagen.
Julia wischt die Tränen weg. Das Leben geht weiter. So banal es auch klingt, es stimmt.
35
Ari und Koenraad haben Vincent mehrere Stunden lang in die Zange genommen, jedoch so gut wie nichts erreicht.
Schlecht gelaunt kommen die beiden ins Büro.
»Er isst jetzt zu Mittag«, sagt Koenraad zu Julia und Sjoerd. »Wenn er fertig ist, könnt ihr weitermachen.«
»Ich verstehe nicht, warum er partout nichts zu seiner Freundin sagen will«, meint Sjoerd.
»Er sieht sie nicht in erster Linie als seine Freundin«, sagt Julia, »sondern als persönlichen Besitz. In seinen Kreisen verliert man das Gesicht, wenn man die Freundin nicht im Griff hat. Es reicht ihm nicht, wenn wir sie zu fassen kriegen; er muss selbst mit ihr abrechnen.«
Sie will noch etwas sagen, doch da kommt Ramakers herein, mit einer Miene, die nichts Gutes verheißt.
»Die DNA -Proben sind inzwischen untersucht«, sagt er. »Von Vincent van Assendelft hat man nichts gefunden; damit ist er aus dem Schneider, was Nathalies ›Entführung‹ angeht. Ich vermute stark, dass die junge Dame das Chaos selbst verursacht hat, wie auch Frau Vriens schon meinte. Die DNA aus ihrem Blut stimmt übrigens mit der aus den Haaren überein, die am Tatort in der Bachstraat gefunden wurden.«
Julia fährt hoch. »Dann war Nathalie kurz vor den Morden dort!«
»Genau. Leider kennen wir immer noch nicht ihren Nachnamen. Anscheinend hat sie sich bisher nichts zuschulden kommen lassen, sonst hätten wir das anhand des Fingerabdrucks auf der Klingel ermitteln können. Die anderen DNA -Spuren stammen von Ihrer Großmutter, Frau Vriens, und von dem Baby. Und jetzt kommt’s, haltet euch fest: Bei dem Kind hat sich eine Übereinstimmung ergeben!«
»Wie bitte?« Sjoerd sieht ihn verdutzt an.
»Wie heißt das Baby gleich noch mal?«, fragt Ramakers Julia.
»Robbie.«
»Der Name ist falsch, weil es nämlich kein Junge ist und schon gar nicht das Kind dieser Nathalie. Die DNA gehört zu einem Mädchen namens Luna van Meerdonk. Der Name kommt Ihnen sicherlich bekannt vor.«
Ramakers Worte schlagen ein wie eine Bombe.
»Nein!« Julia ringt nach Luft und kann nur mit Mühe die Fassung bewahren. »Das gibt’s doch nicht!«
»Und ob. Es besteht kein Zweifel: Robbie ist ein Mädchen und heißt Luna.«
Julia stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch und vergräbt das Gesicht in den Händen. Es ist nicht zu fassen!
Vor drei Wochen wurde Luna van Meerdonk in der Venloer Innenstadt entführt. Ihre Mutter hatte den Kinderwagen in einer Modeboutique abgestellt, und während sie sich Kleider ansah, hatte eine junge Frau das Kind aus dem Wagen genommen und mit ihm den Laden verlassen. Die Verkäuferin an der Kasse hatte das zwar gesehen, aber erst reagiert, als die Mutter in den Wagen schaute und feststellte, dass ihr Baby verschwunden war.
Die Beschreibung der Verkäuferin stimmte mit den Bildern der Überwachungskamera überein: Die Entführerin war etwa einen Meter siebzig groß, hatte halblange dunkle Locken und trug Jeans und eine Lederjacke. Leider war ihr Gesicht auf den Kamerabildern nicht deutlich zu erkennen.
Unmittelbar nach dem Verschwinden des Kindes hatte die Polizei mit einem Großaufgebot nach ihm gesucht. An den Flughäfen sowie an sämtlichen Bahnhöfen des Landes waren Zettel mit einem Foto des verschwundenen Mädchens verteilt worden. Es kamen zwar ein paar Hinweise, gefunden wurde das Kind aber bis heute nicht.
»Ich hab wer weiß wie lange mit ihr geredet«, flüstert Julia. »Und nichts gemerkt, rein gar nichts …«
Wenig später bittet Ramakers sie zu sich und fragt, ob sie sich, so kurz nach dem Tod ihrer Großmutter, nicht ein paar Tage freinehmen wolle.
Sie dankt für das freundliche Angebot, lehnt aber ab. Zu Hause würde sie doch nur in Trübsal versinken. Dann lieber arbeiten, insbesondere jetzt, nachdem der Fall eine so brisante Wendung genommen hat.
Julia macht sich bittere Vorwürfe, denn wie man es auch dreht und wendet – es ist ihre Schuld. Sie hat die Sache verbockt. Wie
Weitere Kostenlose Bücher