Am Helllichten Tag
Abend allein herumsitzt. Doch da Julia nicht nach Ge sell schaft und schon gar nicht nach weiteren Komplikationen zumute ist, wehrt sie ab: Nein, das sei nicht nötig, sie komme schon zurecht und außerdem habe sie noch Verschiedenes zu regeln.
»Ich hatte heute frei«, sagt sie. »Habe aber längst nicht alles geschafft, weil etwas dazwischengekommen ist.«
»Ist gut«, sagt Taco. »Aber wenn du mich brauchst, rufst du an, ja? Und vergiss nicht, mir zu sagen, wann die Beerdigung ist.«
Julia verspricht es und beendet das Gespräch.
Benommen lehnt sie sich zurück.
Das kann doch alles nicht wahr sein! Ihre Großmutter ist nicht tot, und sie hat keine Beziehung mit zwei Männern gleichzeitig, schon gar nicht mit dem Ehemann einer guten Bekannten.
Sie will sich gar nicht vorstellen, was ihre Oma dazu sagen würde …
»Ach Oma, es tut mir so leid«, flüstert sie, den Blick zur Decke gewandt.
Die Beerdigung findet drei Tage später statt, auf dem Friedhof, auf dem auch Julias Eltern begraben sind.
Ein paar wenige Verwandte sind gekommen, dazu unzählige Nachbarn und Bekannte aus Sint Odilienberg.
Auch Sjoerd und Melanie sind da, und wenn Taco es nicht übernommen hätte, Julia Beistand zu leisten, wäre Melanie mit Sicherheit ständig an ihrer Seite. Sie steht in der Nähe und greift nach Julias Hand, als der Sarg in die Grube gelassen wird.
Zwischen Melanie und Taco, der den Arm um sie gelegt hat, und im Bewusstsein, dass Sjoerd nur ein paar Schritte hinter ihr steht, fühlt Julia sich sehr viel unwohler, als wenn sie mutterseelenallein gewesen wäre.
Nach dem Begräbnis hat sie zum Leichenschmaus in ein Res taurant unweit des Friedhofs eingeladen.
Kaum eine Stunde ist vergangen, als sich der Raum bereits wieder leert. Sjoerd und Melanie verabschieden sich mit Wangenküssen, die auf Julias Haut brennen.
Sie lehnt sich an Sjoerd, um seine Arme um sich zu spüren – aber nur kurz, damit sie niemanden vor den Kopf stößt.
Dann verlassen Sjoerd und Melanie gemeinsam das Lokal. In der Tür sieht Sjoerd sich noch einmal um, und plötzlich hat Julia das Gefühl, als wären sie mit tausend fein gesponnenen Fäden verbunden.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Taco, nachdem alle Gäste gegangen sind.
»Ich will noch mal zum Friedhof.« Als sie seine besorgte Miene bemerkt, wendet Julia rasch den Blick ab.
Ich muss Schluss machen, denkt sie. Ich kann ihm nicht länger etwas vorspielen, das liegt mir einfach nicht.
»Und ich soll dich nicht begleiten?« Taco hat sichtlich Bedenken, sie jetzt allein zu lassen.
»Lieber nicht«, sagt sie. »Es gibt nun mal Dinge, die man mit sich selbst abmachen muss. Ich kann jetzt nicht nach Hause und möchte noch ein wenig bei meiner Oma sein.«
»Ganz wie du meinst. Aber heute Abend komme ich und koche für dich, einverstanden? Du brauchst gar nicht viel zu re den, meinetwegen kannst du dich auch hinlegen, dann bringe ich dir das Essen ans Bett.«
Seine Fürsorglichkeit rührt Julia. Warum ist sie nicht mit Haut und Haaren in diesen Mann verliebt? Was hat Sjoerd ihm voraus, der heute Abend weder für sie kochen noch sie trösten kann? Jedenfalls nicht ohne seine Frau im Schlepptau. Es würde sie nicht wundern, wenn die beiden auf Melanies Betreiben hin noch auftauchten. Dann doch lieber Taco …
»Gut.« Sie lächelt. »Das ist wirklich lieb von dir.«
Er küsst sie auf die Nasenspitze. »Merkst du das erst jetzt?«
Die Hände in den Taschen ihrer weißen Sommerjacke geht Julia über den Friedhof. Die Sonne scheint ihr ins Gesicht, sie wärmt und tröstet.
Nach den vielen Schritten auf dem Kies, dem Schluchzen und Geflüster ist jetzt wieder Stille eingekehrt, und Julia kann ihre Gedanken schweifen lassen.
Langsam geht sie zu dem mit Blumenschalen und Kränzen bedeckten Grab, das sich inmitten des Grüns und der grauen Grabsteine wie eine bunte Insel ausnimmt.
Sie bückt sich nach den Schleifen, liest die Aufschrift auf jeder einzelnen.
Ihre Großmutter hatte ein gutes Leben und war bis zum letzten Tag aktiv. Das ist alles andere als selbstverständlich, denkt Julia. Sie hätte auch dement werden, in einem Pflegeheim landen oder nach langem Leiden sterben können. All das ist ihr erspart geblieben. Andererseits war sie gesund und so rüstig, dass sie wahrscheinlich noch ein paar Jahre vor sich gehabt hätte.
Wenn ein Mensch in hohem Alter stirbt, gilt das als normal, als unvermeidlich, ganz so, als wäre der Tod dann weniger schmerzlich, als würde man einen
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