Am Helllichten Tag
geworden ist. Dass es ausgerechnet am Tag nach dem Tod ihrer Großmutter und noch dazu in deren Haus passieren musste, kommt ihr vor wie eine Ironie des Schicksals. Und sie fragt sich, ob es wirklich Zufall war, dass dieser Vincent auftauchte, als sie gerade drauf und dran waren, alle Bedenken über Bord zu werfen. Sie ist nicht abergläubisch, aber da Sjoerd nun offensichtlich wieder auf Distanz geht, überlegt sie, ob es nicht einen tieferen Sinn hat, dass alles so gelaufen ist.
Als sie am Spätnachmittag ihren Computer abschaltet, vergewissert sie sich rasch, dass sonst niemand im Raum ist, und fragt dann leise: »Musst du jetzt gleich nach Hause?«
»Nein. Ich wollte dich ohnehin fragen, ob wir noch was trinken gehen. Wir müssen reden.«
Sie nickt, obwohl sich ihr Herz zusammenkrampft. Seine Stimme klingt völlig neutral und sachlich.
Was hatte sie erwartet? Dass sie Händchen haltend das Revier verlassen und sich im Sonnenuntergang küssen?
Wenn sie ehrlich ist, hat sie sich genau diese Szene oft ausgemalt.
Eigentlich sollte sie so kurz nach dem tragischen Tod ihrer Großmutter nicht an so etwas denken, andererseits ist ihre Sehnsucht nach Geborgenheit, nach einem Menschen, mit dem sie ihr Leben teilen kann, dadurch nur noch größer geworden.
Ich habe schließlich auch ein Recht auf Glück!, sagt sich Julia. Aber gilt das auch, wenn es auf Kosten anderer geht? Wenn Melanie und Joey darunter leiden müssen?
Tief in ihrem Innern weiß sie, dass sie sich darüber hinwegsetzen könnte. Es hat keinen Sinn, sich selbst zu belügen.
Sie fahren am Fluss entlang. Da Sjoerd ganz in der Nähe des Reviers wohnt, ist auch er wie Julia mit dem Rad gekommen.
Vor dem »Café du Pont« stellen sie die Räder ab, gehen hinein und setzen sich ganz hinten in den Gastraum.
Der Tisch zwischen ihnen bildet eine Art neutrale Zone, was Julia als schlechtes Omen wertet. Da Sjoerd sie bisher kaum angesehen hat, ahnt sie, worauf das Gespräch hinauslaufen wird. Plötzlich empfindet sie ein bedrückendes Gefühl der Leere.
Doch dann nimmt er ihre Hand und sieht ihr in die Augen.
Neue Hoffnung keimt auf.
»So was darf nie wieder vorkommen«, sagt er leise. »Das ist dir doch hoffentlich klar? Wir haben uns von der Situation hinreißen lassen. Ich fühle mich zu dir hingezogen, seit wir uns kennen, aber das ist keine Liebe, sondern eine rein körperliche Angelegenheit.«
Lass die blöden Floskeln!, würde sie am liebsten sagen. Ich denke jede Minute des Tages an dich, stelle mir nachts vor, du liegst neben mir im Bett – was soll das sonst sein, wenn nicht Liebe?
Doch sie schweigt, lauscht dem Klang seiner tiefen, warmen Stimme, die sie unter Tausenden wiedererkennen würde.
Und mit ebendieser Stimme sagt er nun, er liebe seine Frau, denke gar nicht daran, sie jemals zu verlassen – und zerstört alle ihre Träume.
Und ich?, möchte sie schreien. Was bedeute ich dir? Wir haben so vieles gemeinsam, und du liebst mich auch, das habe ich mir doch nicht nur eingebildet. Es ist doch kein Zufall, dass ausgerecht wir beide …
Wie dem auch sei, es gibt nur eine Möglichkeit: Um nicht das Gesicht zu verlieren, muss sie so tun, als dächte sie genauso. Nur dann können sie als Partner weiterhin zusammenarbeiten. Sie darf kein Wort mehr über ihre Hoffnungen verlieren. Ob sie das schaffen wird? Wohl eher nicht …
Sie sieht auf, schaut Sjoerd direkt in die Augen.
»Dann bleibt mir wohl keine andere Wahl, als zu kündigen«, sagt sie leise. »Für mich ist es nämlich Liebe. Ich habe mich nicht einfach nur hinreißen lassen. Ich liebe dich, Sjoerd.«
Das Stimmengemurmel der anderen Kneipengäste wird zu einem Hintergrundrauschen.
An Sjoerds Miene ist deutlich abzulesen, was in ihm vorgeht.
Er zieht Julias Hand an seine Lippen und küsst sie.
»Vergiss, was ich gesagt habe. Ich liebe dich auch, nur dachte ich, es wäre besser … einfacher, meine ich … wenn wir …«
Julia ist vollkommen verwirrt. Darf sie nun doch wieder hoffen?
Sjoerd beugt sich zu ihr.
»Julia, ich wollte nur alles richtig machen, vernünftig sein und bei Melanie bleiben. Ja, ich liebe dich, ich bin verrückt nach dir. Vergiss einfach, was ich vorhin gesagt habe.«
»Was hast du denn gesagt?« Sie lächelt unter Tränen.
Sjoerd wiederholt die Liebeserklärung, rückt seinen Stuhl neben ihren und küsst ihr die Tränen vom Gesicht.
Gut eine Stunde lang flüstern sie miteinander, küssen sich, halten sich an der Hand.
Dann steht Sjoerd auf und
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