Am Horizont das rote Land: Roman (German Edition)
machen, wie ungelegen ihm das kam. »Ich dachte, Sie sollten meine Assistentin sein.« Sein Schmollen wäre lachhaft gewesen, wäre es nicht so nervtötend.
»Ich bin nicht immer eine Gefangene gewesen, Mr Reeve. Vor nicht allzu langer Zeit war ich die Tochter eines katholischen Händlers und habe in Dublin in einem großen Haus mit Dienstboten gewohnt. Vor nicht allzu langer Zeit wäre es skandalös gewesen, mich alleine mit Ihnen oder Mr Blake in einer Kajüte aufzuhalten.« Sie stand auf, um zu gehen, und merkte dabei, dass sie ihre Kappe nicht trug. Sie wollte nicht, dass Laurence ihr Haar sah. Als sie sich herunterbeugte, um sie aufzuheben, fiel der Brief ihrer Mutter aus der Schürzentasche vor die Füße von Mr Reeve. Ohne zu zögern, hob er diesen auf und begann ihn aufzufalten. Damit ging er eindeutig zu weit. Rhia schnappte ihm das Papier weg.
»Dazu haben Sie kein Recht!«
Er wirkte verdutzt, dann lief sein Gesicht rot an. Er zuckte und wandte sich ab.
»Wir tragen alle Erinnerungsstücke an jene mit uns herum, die uns lieb sind«, murmelte er, mit dem Rücken zu ihr über seinen Tisch gebeugt. Hoffentlich schämte er sich. Was konnte ihn dazu gebracht haben, sich so zu verhalten? Vielleicht dachte er, es handle sich um einen Liebesbrief, doch auch dann ging es ihn nichts an.
Draußen stand Albert und rauchte. Er warf ihr einen neugierigen Blick zu. Vermutlich hatte er alles mitgehört. Sie folgte ihm durch einen schmalen, niedrigen Korridor, der hinter ihrer Zwischendeck-Nische vorbeiführte. Albert sang leise: »In Dublin’s fair city, where the girls are so pretty, I first laid my eyes on Rhiannon Mahoney …«
Sie spürte, wie sich in ihren Augenwinkeln Tränen sammelten. »Ich bin dir sehr dankbar, Albert. Ich werde einen Weg finden, es dir zurückzuzahlen.«
»Nich nötig. Das hat Mr Blake schon getan.« Er klimperte mit einigen Münzen in seiner Tasche und grinste. »Passen Sie auf«, fügte er hinzu, »das hier ist der geheime Weg zum Passagierdeck.« Er lachte glucksend. »Falls Sie da irgendwann mal heimlich hinmüssen.« Albert führte sie einen dunklen Gang hinunter, der ihr entfernt bekannt vorkam. Sie war einmal hier entlanggekommen, als sie sich verlaufen hatte.
Das einzige Lebenszeichen in diesem engen, sich schlängelnden Durchgang war eine offene Tür, aus der schwaches Gaslicht und der Geruch nach gebratenem Geflügel drang. Die Schiffsküche. Es handelte sich nicht um ein Mahl für die Gefangenen, das da zubereitet wurde. Das einzige Fleisch, das Rhia seit Wochen gekostet hatte, war gekochtes Rindfleisch, sehnig und ohne Geschmack. Im Vorbeigehen spähte sie in die Küche hinein und erhaschte einen Blick auf den knochendürren Rücken eines Mannes in einer riesigen, dreckigen Schürze, die fast zweimal um ihn herumreichte. Er trug die eng sitzende Kappe eines Chinesen, und ein langer, strähniger Zopf reichte ihm bis zur Taille. Rhia hatte keine Zeit, um noch mehr von der Küche wahrzunehmen, außer dass sie schummrig beleuchtet, voller Dampf und nicht sonderlich sauber war. Die gebückte Haltung des dünnen Rückens des Kochs ließ ihn kränklich wirken.
Sie erreichten das Ende des Gangs und stiegen einige Treppenstufen zum Passagierdeck hinauf. Albert brachte sie an die Tür von Laurence’ Kajüte, grinste frech und verschwand.
Laurence öffnete die Tür, als hätte er wartend auf der anderen Seite gestanden. Rhia trat ein. Die Kajüte fühlte sich geräumig an, auch wenn sie nicht viel größer war als die von Mr Reeve. Durch ein schmales Fenster fiel Licht auf einen Schreibtisch. Das Fenster war von Meer und Himmel erfüllt. Auf dem Tisch lag eine lackierte Schreibpapierschachtel und etwas, was wie eine kleine Bücherpresse wirkte, wobei sich zwischen den zwei Holzplatten ein Stück Glas befand. Daneben lag die Hülle, die das Negativ enthielt.
Rhia schaute sich um. Es gab ein in die vertäfelte Wand eingebautes Bett und einen gepolsterten Sessel. Der gemusterte Teppich auf dem Boden fühlte sich weich unter ihren Füßen an. Der Stuhl wirkte luxuriös, das Leintuch sauber. Dinge, die ihr einst völlig normal erschienen und die ihr vielleicht nicht einmal aufgefallen wären. Sie gehörte nicht länger in ein solches Zimmer, und sie fühlte sich unwohl.
Laurence schien nichts davon zu bemerken. Er trat einen Schritt näher und ergriff ihre Hände. »Rhia …«
Sie hielt den Atem an.
»Dich so zu sehen.«
Sie wandte den Blick ab und versuchte zu scherzen: »Sehe ich
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