Am Horizont die Freiheit
Empfangssaal der Könige von Aragonien. Mit seiner schlichten, aber erhabenen Pracht wollte man die Besucher des Monarchen einschüchtern.
Nur dass jetzt, am Ende des langen Weges vom Eingang her, kein König wartete, sondern Bruder Alfonso Espina, der Inquisitor. Joan, den zwei Soldaten der Inquisition vor den Mönch führten, fühlte sich winzig klein und eingeschüchtert, während er durch diesen kalten und leeren Saal lief, der seine Schritte widerhallen ließ. König Ferdinand konnte seine Absichten nicht klarer zeigen. Der Inquisitor besaß die gesamte Macht, die weltliche und die göttliche, und er nahm die Stelle des Königs und Gottes ein.
Der Mönch hatte keinen Thron, wohl aber einen gepolsterten Stuhl hinter einem massiven Tisch, der auf einem drei Stufen erhöhten Podium stand. Ein Baldachin, dessen herabhängender Stoff seinen Rücken und die Seiten des Podiums umgab, schützte ihn vor Kälte und Zugluft. An seitlichen Tischen, die nur eine Stufe über dem Boden erhöht waren, saßen mehrere Beamte: Notare, Schreiber und Sachverständige in religiösen Fragen, wie etwa die als Qualifikatoren wirkenden Theologen.
Als er den Inquisitor erreicht hatte, schien niemand seine Anwesenheit zu bemerken. Die Beamten unterhielten sich, und Bruder Espina las in einem Buch, vielleicht ein Brevier, denn es sah so aus, als betete er.
Nach einer Weile ging ein Beamter zu dem Jungen und zeigte ihm ein Dokument, in dem Joans Name, Alter und Herkunft verzeichnet waren. Außerdem stand dort, dass er als Lehrling in der Werkstatt der Corrós arbeitete. Als der Junge erklärte, dass diese Angaben stimmten, ließ er ihn schwören, dass er bei allem die Wahrheit sagen werde. Dann kündigte er laut an: »Joan Serra von Llafranc hat geschworen, die Wahrheit zu sagen!«
Ein Schreiber protokollierte sorgfältig, und nun schien ihn der Inquisitor zu bemerken.
Niemand hatte ihm mitgeteilt, warum ihn Bruder Espina sehen und welche Fragen er ihm stellen wollte. Die Buchbindermeister hatten gesagt, sie würden lediglich als Zeugen dienen, man würde gewiss keine Anklage gegen sie erheben. Aber niemand konnte die Absichten der Inquisitoren kennen. In der Stadt erzählte man schreckliche Geschichten, und alle hatten Angst vor ihnen.
»Bist du Joan Serra von Llafranc?«, fragte der Inquisitor.
»Ja, Pater«, antwortete er und beugte das Knie, wie ihn die Soldaten angewiesen hatten.
»Denk daran, dass du unter Eid stehst«, warnte ihn ein Beamter, der an einem seitlichen Tisch saß. »Wenn du lügst, begehst du nicht nur eine schreckliche Sünde, sondern wirst auch öffentlich ausgepeitscht und für den Rest deines Lebens eingekerkert.«
Joan nickte zustimmend.
»Welche Arbeit hast du bei den Corrós geleistet?«
»Ich habe beim Buchbinden geholfen und als Lehrling Bücher kopiert.«
»Was für Bücher hast du kopiert?«
Joan sagte sich, wenn er Unwissenheit vortäuschte, würde er einen Meineid begehen, und seine Strafe müsste schrecklich sein. Aber diese Frage ließ ihn begreifen, warum sein Herr nicht gewollt hatte, dass er lesen lernte. Nun begriff er, dass von den Büchern eine Gefahr ausging, sogar eine große Gefahr. Er wusste nicht, welche Antworten nachteilig für Mosén Corró sein könnten. Er wollte ihm nicht schaden, doch niemand hatte ihn auf diesen Moment vorbereitet. Er wollte schon sagen, dass er nicht lesen könne – aber der Beamte hatte ihm ja gerade ein Dokument gezeigt, und er hatte erklärt, dessen Inhalt sei korrekt. Er war verloren!
»Antworte, Junge!«, fuhr ihn der Beamte an, der ihm mit einer Bestrafung wegen Meineids gedroht hatte.
Joan überkam panische Angst. Unter keinen Umständen würde er es wagen, den Inquisitor zu belügen.
»Ich … Ich erinnere mich nicht an alles.«
»Es wird besser für dich sein, wenn du dein Gedächtnis auffrischst. Streng dich an!«
»Ich habe Ramón Llull kopiert.«
»Seine Rechtgläubigkeit wird in Frage gestellt«, kommentierte der Inquisitor. »Welche Werke?«
»Die
Ars Magna
.«
»Das ist keine große Sünde. Was hast du noch kopiert?«
Joan schluckte.
»Ich habe Arnau de Vilanova kopiert.«
»Welche Bücher?«
»Das
Speculum Medicinae
, das
Regimen Sanitatis
und das
De considerationibus operis medicinae
.«
»Auf Lateinisch?«
»Ja, Pater.«
Der Inquisitor blickte zum Seitentisch hinüber, und der als Qualifikator wirkende Beamte sah einige Aktenbündel durch. Dann erklärte er feierlich: »Das sind medizinische Abhandlungen ohne religiösen
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