Am Horizont die Freiheit
Der Junge hatte den Mauren für tot gehalten, und es war für ihn ein Geschenk des Himmels, dass er wieder seine Gegenwart, seine Weisheit und Zuneigung genießen durfte.
In den nächsten Jahren blieb Joan in enger Verbindung mit Bartomeu und Abdalá. Wenn er sie besuchte, führte er lange Gespräche mit ihnen, in denen Bücher gewöhnlich die Hauptrolle spielten. Ein Jahr nach dem tragischen Tod der Corrós sagte Bartomeu zu ihm: »Ich habe Neuigkeiten für dich. Aus Neapel habe ich einen Brief und ein Buch erhalten. Und nun rate, von wem.«
»Von Anna?«, erkundigte sich Joan hoffnungsvoll.
»Nein.« Bartomeu lächelte. »Von Pere Roig, ihrem Vater, der mir durch die Vermittlung eines befreundeten neapolitanischen Buchhändlers schreibt.«
»Sie sind in Neapel!« Joan merkte, wie sein Herz schneller klopfte.
»Ja, und sie haben sich erfolgreich eingerichtet. Obwohl seine Geschäfte nicht so gutgehen wie hier, werfen sie genug für ihn ab, um uns mit der Übersetzung eines italienischen Buches zu beauftragen. Es ist der erste Band von Matteo Maria Boiardos
Der verliebte Roland
.«
»Das kenne ich nicht.«
»Es ist eines der Bücher, die an den italienischen Höfen beliebt sind«, griff Abdalá ein. »Bei den Zusammenkünften großer Damen und Herren liest man es laut vor, um danach über seinen Inhalt zu diskutieren. Das Schicksal mancher Ritter und ihr Vermögen hängen davon ab, wie verständig und brillant sie sich im Umgang mit diesen Texten zeigen.«
»Mosén Roig glaubt, dass seine Tochter die notwendigen Vorzüge hat, um einen Großbürger oder Kleinadligen aus Neapel heiraten zu können«, erklärte Bartomeu. »Darum will er, dass sie das Toskanische, die italienische Literatursprache, und die modernen höfischen Umgangsformen erlernt. Er nimmt an, wenn Anna den
Verliebten Roland
auf Italienisch und gleichzeitig seine Übersetzung habe, werde sie schnellere Fortschritte machen.«
Joan versank in seinen Gedanken. Endlich hatte er etwas von Anna gehört! Er sehnte sich danach, einen Weg zu finden, sich mit ihr in Verbindung zu setzen und ihr zu sagen, dass er sie immer noch liebte.
»Meister Abdalá, werdet Ihr das Buch übersetzen?«, fragte er.
»Ja.«
»Dann lasst mich Euch helfen!«, bat Joan nachdrücklich. »Ihr übersetzt und diktiert, und ich schreibe. Wir werden viel schneller vorankommen. Immer, wenn ich in der Werkstatt freihabe, könnt Ihr hier auf mich zählen.«
Obwohl der Granadiner noch über einen glänzenden Verstand verfügte, war seine Hand nicht mehr so gelenkig wie früher, und das Schreiben fiel ihm schwer, wie Joan wusste.
»Was haltet Ihr davon, Bartomeu?«, fragte der Meister.
Der Kaufmann lächelte. Er ahnte, was Joan beabsichtigte.
»Einverstanden«, sagte er.
Joan war unsagbar glücklich. Annas Augen würden die von seiner Hand gezeichneten Buchstaben lesen. Bald dachte er sich einen Plan aus: Eine Seite der Übersetzung des
Verliebten Roland
würde ein Liebesbrief sein, den er an Anna Roig richtete. Er sollte inmitten der übrigen Seiten vollkommen verborgen bleiben, doch er würde so eingenäht sein, dass sie ihn mühelos herausreißen könnte, ohne dass ihr Vater etwas mitbekam.
Drei Monate danach befanden sich das Buch und seine Übersetzung auf dem Weg nach Italien. Joan hatte Anna in seinem Brief abermals seine Liebe gestanden und ihr erzählt, wie betrübt er wegen ihrer Abwesenheit sei und dass er plane, so bald wie möglich nach Neapel zu fahren. Nur müsse er vorher etwas Geld zusammenbringen und herausfinden, wo sich seine Mutter und seine Schwester aufhielten. Und das wisse man nur in der Flotte Vilamarís, die ständig durchs Mittelmeer segle. Er müsse sich gedulden, bis diese nach Barcelona komme. Er wagte nicht, sie darum zu bitten, auf ihn zu warten, doch das war es, was er am meisten ersehnte.
Begierig sah Joan der Antwort Annas entgegen. Die Monate vergingen, und seine Ungeduld nahm zu, doch seine Hoffnung blieb ungebrochen. Erst Ende Oktober traf der heißersehnte Brief ein. Er erreichte ihn durch die Vermittlung Bartomeus und des mit ihm befreundeten Buchhändlers in Neapel. Annas Möglichkeiten, sich frei zu bewegen, waren begrenzt. Sie hatte keine Gelegenheit, einen Brief direkt zu schicken, und es kostete sie mehrere Besuche bei dem Buchhändler, bis sie ihn überzeugen konnte, den Brief für sie weiterzuleiten.
Sie antwortete, dass sie ihn ebenso liebe und versuchen wolle, auf ihn zu warten und sich den drängenden Heiratswünschen ihrer
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