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Am Horizont die Freiheit

Am Horizont die Freiheit

Titel: Am Horizont die Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorge Molist
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geläutet hatte, kam mit einer Öllampe zur Tür jedes einzelnen Bruders, damit diese ihre Lampen anzünden konnten. Sie bildeten eine Reihe, und mit übergezogenen Kapuzen liefen sie einmal singend um den Kreuzgang und betraten die Kirche. Die Kinder schlossen sich ihnen an.
    Die Gebete dauerten eine halbe Stunde, und als sie wieder hinaustraten, fragte Joan den Novizen: »Wann frühstücken wir?«
    »Nach den Primgebeten, wenn die Sonne aufgeht.«
    Joan erfuhr, dass man das Tageslicht möglichst weitgehend nutzte, weil man dann Öl sparte, und dass man die Wachs- und Talgkerzen nur bei Feierlichkeiten an den Altären benutzte. Je mehr Wachs verbrannt wurde, desto wichtiger war die Zeremonie. Außerdem hörte er, dass sie nachts die Matutin beteten, von der sie befreit waren, weil sie noch nicht die Gelübde abgelegt hatten. Der Himmel war mit Sternen bedeckt, und das erste Tageslicht war zu erahnen. Sie kehrten zu ihrem warmen Strohsack zurück. Gabriel schlief sofort ein, und Joan, der sich unbehaglich fühlte, weil seine Haut juckte, verfiel in Grübeleien und fragte sich, was ihnen die Zukunft bringen würde.
     
     
    Die Glocken weckten Joan aus dem Halbschlaf, in den er versunken war. Ihn erschreckte die ungewöhnliche Reaktion seines Bruders.
    »Die Glocken!«, schrie dieser.
    Mit einem Sprung, ohne sich auch nur die Soutane anzuziehen, im Hemd, rannte er auf den Hof hinaus, lief barfuß über die Steine und durch die Pfützen. Er blieb an einer Stelle stehen, von der aus er das Ende des Kirchturms sehen konnte, in dem die Glocken hin- und herschwangen. Doch er erlebte eine Enttäuschung. Nach einem ersten Läuten schlug die große Glocke nur einmal an. Die kleinere bewegte sich überhaupt nicht.
    »Nur einmal?«, erkundigte er sich enttäuscht. »Gestern haben sie ganz oft geläutet, aber ich konnte die Glocken nicht sehen, weil es dunkel war und regnete. Und nun, da ich sie sehen kann, läutet bloß eine Glocke. Und ich bin nicht rechtzeitig gekommen!«
    »Weil es die Zeit der Prim ist, Dummkopf!«, lachte der Novize. »›Prim‹ bedeutet ›die Erste‹, und weil es die Erste ist, läutet es auch nur einmal.«
    »Die Glocke von Palafrugell machte es genauso«, erklärte Joan, um seinen Bruder zu verteidigen. »Aber er erinnert sich nicht daran, weil der große Ort weit weg von unserem Dorf war und man es beinahe gar nicht hören konnte.«
    »Na, das sind mir zwei Dorfkinder!« Der Novize lachte wieder. »Ihr wisst ja wirklich gar nichts!«
    Joan wurde wütend. Er streckte die Zehen des rechten Fußes hoch, um sie nicht zu verletzen, denn er war barfuß, und versetzte ihm mit dem Ansatz seines großen Zehs einen Tritt ans Knie. Pere ließ vor Überraschung und Schmerz ein »Au!« hören und krümmte sich. Joan wollte ihm gerade einen Faustschlag ins Gesicht versetzen, als Gabriel seinen Arm festhielt.
    »Warum hast du mich getreten?«, jammerte der Novize, der zu Boden gestürzt war und sich das Knie hielt. »Das sage ich Bruder Antoni, und er wird euch hinauswerfen.«
    Joan war beunruhigt. Das hier war nicht sein Dorf, der andere war keiner von seinen Freunden, und die Dinge konnten im Kloster ganz anders sein als am Strand.
    »Aber ich habe dir doch gar nichts getan.« Joan versuchte, freundlich zu lächeln. »Lass sehen, ob du einen blauen Fleck hast.«
    Der andere zog die Tunika hoch, um seine Knie anzusehen. Damit entblößte er einen Augenblick seine Schamteile, womit er ungewollt Joan in Versuchung führte, ihm gerade dorthin einen Fußtritt zu versetzen. Noch war seine Wut nicht verraucht, und allmählich verachtete er diesen weinerlichen Jungen.
    Das Knie war leicht gerötet, und der Novize sah ein, dass so etwas nicht ausreichte, um sich zu beschweren.
    »Siehst du, dass du gar nichts hast?«, betonte Joan nachdrücklich. »Außerdem wirst du Bruder Antoni nicht sagen wollen, dass du uns beleidigt hast und dass du dich von einem kleineren Jungen hast schlagen lassen, oder?«
    Der andere dachte darüber nach, und Joan, der ihn aufmerksam beobachtete, begriff, dass er Angst vor dem Subprior hatte.
    »Na gut«, stimmte er schließlich zu. »Aber mach das nicht noch einmal.«
    »Sind wir Freunde?« Joan streckte ihm die Hand hin.
    »Einverstanden«, sagte der Junge und fasste die Hand, um sich aufzurichten.
    Der Junge gefiel Joan immer noch nicht, doch er dachte, dass es für ihn ratsam war, ihn auf seiner Seite zu haben.
    Wieder spürte er, dass ihm die Knöchel juckten, und als er sie rieb,

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