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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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der Stadtbücherei. Täglich von 9 bis 18 Uhr«, stand da in großen Lettern, damit auch Kinder es gut lesen konnten.
    Sie war überhaupt nicht hier gewesen. Ich wusste es sofort. In diesem Moment bereute ich, Momo kein Mobiltelefon mitgegeben zu haben. Dann besann ich mich. Selbst wenn sie eins hätte, würde sie wahrscheinlich nicht abheben. Es spielte also keine Rolle.
    Ich hatte keine Ahnung, wo sie hingegangen sein konnte. Ich rannte nach Hause und fragte meine Mutter. Tja, wenn wir das nur wüssten, antwortete sie. Es klang beinahe ungerührt, aber ich wusste, dass sie sich nur verhärtete. Auf meine Mutter konnte ich nicht zählen.
    Ihre Schulfreundinnen. Wie hießen die?
    Mir fiel kein einziger Name ein. Doch. Hirose. Genau, Yukino Hirose. Momo war mit ihr in der Grundschule gewesen, sie hatte auch an der Aufnahmeprüfung für die Oberschule teilgenommen. Ich holte die Adressenliste hervor und rief an.
    »Ja?«, antwortete Yukino Hirose. Mit tonloser Stimme. Momo sprach wahrscheinlich auch so, wenn sie mit Erwachsenen redete. Manchmal sogar mit mir oder meiner Mutter. »Keine Ahnung. Nee. Da fällt mir nichts ein. Ja. Nein. Ja. Ja.«
    Yukino Hirose konnte mir nichts sagen. Nachdem ich aufgelegt hatte, zermarterte ich mir das Gehirn. Was sollte ich tun? Zur Polizei gehen? Zum Klassenlehrer? Just in diesem Augenblick tauchte meine Verfolgerin auf. Und zwar mit großer Präsenz.
    »Hau ab!«, schrie ich. Meine Mutter fuhr erschrocken zusammen. Entschuldige, sagte ich. Obwohl die Entschuldigung meiner Mutter gegolten hatte, grinste die Frau zufrieden.
    »Ich weiß es«, sagte sie.
    Du weißt, wo Momo ist?, schrie ich innerlich. Hätte ich laut gesprochen, wäre meine Mutter wieder erschrocken.
    »Ganz in der Nähe.«
    Wo?
    »Komm mit.«
    Ich folgte der Frau. Bevor ich aus dem Haus rannte, sagte ich meiner Mutter, ich hätte eine Idee. Die Frau ging sehr schnell. Mehrmals verlor ich sie fast aus den Augen. Wir gingen durch ein Wäldchen nahe der Bücherei und gelangten an den Fluss im Nachbarviertel. Das Flussbett tauchte auf. Im Flutlicht wurde Baseball gespielt. Die Schläge hallten, und die Bälle durchschnitten zischend die nächtliche Luft.
    Hier ist es, sagte die Frau. Aus einer stockdunklen Wiese hinter einem Fußball- und einem Baseballfeld ertönte leise und heiser das Knurren eines Hundes. Anscheinend streunte dort ein großer schwarzer Hund herum. Im Dunkeln konnte ich ihn nicht deutlich sehen.
    »Momo!«, rief ich.
    Ah! - stieß jemand hervor, und unmittelbar neben dem Hund erhob sich ein schmaler Schatten. Neben ihm stand ein zweiter Schatten auf.
    »Bist du das Momo?«, schrie ich. Der schmale Schatten taumelte.
    Ich rannte zu ihr und schloss sie in die Arme. Sie sträubte sich. Mama, lass das. Sie stieß mich kräftig zurück. Der Schatten neben ihr starrte mich an. Wer sind Sie?, wandte ich mich an ihn. Das spielt keine Rolle, sagte Momo hinter mir. Der Schatten entfernte sich und verschwand. Und der Hund mit ihm. Ich hielt Ausschau nach der Frau, aber auch sie war fort.
    Nur Momo stand neben mir. Auf der Wiese war es noch warm von der Hitze des Tages.

4
    Ich sage es dir nicht.
    Mehr bekam ich aus Momo nicht heraus. Ich konnte fragen, sooft ich wollte, mit wem sie auf der Wiese gewesen sei, sie gab mir stets die gleiche Antwort. Ich sage es dir nicht. Weil ich nicht will.
    Als ich ihr ihre Lüge, sie sei in der Bibliothek, vorwarf, entschuldigte sie sich. »Tut mir leid. Aber bis sechs war ich wirklich in der Bücherei. Ich habe sogar ein bisschen gelernt.«
    Die Formulierung »sogar ein bisschen« belustigte mich etwas. Dennoch war ich verstört. Ich wusste schon gar nicht mehr so genau, weshalb ich mit Momo schimpfte. Weil eine Minderjährige unter elterliche Aufsicht gehörte? Oder weil ein Mädchen fleißig lernen und sich nicht an gefährlichen Orten herumtreiben sollte? Oder wegen meiner Doppelmoral, was das Lügen anging?
    »Ich sage es dir nicht«, sagte mir Momo ins Gesicht. Schwach. Ich. Als Mutter. Vor dem Verschwinden meines Mannes war ich viel stärker gewesen. Als Momo noch klein war, hatte ich mit ihr geschimpft, ohne mir groß Gedanken zu machen. Von Anfang an hatte ich genau gewusst, wann und wie ich mein Kind schelten musste. Zumindest hatte ich das geglaubt.
    Früher hatte ich auch nie darüber nachgedacht, was es bedeutet, eine Familie zu sein. Damit war es wohl genau das Gleiche. Erst wenn man etwas verloren hat, beginnt man darüber nachzudenken. Und je mehr man nachdenkt,

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