Am Meer ist es wärmer
war.
»Wollen wir mal zusammen nach Manazuru fahren?«, fragte er.
»Wie wäre es im Juli?«
Ich hatte mich von der Frau verleiten lassen. Eigentlich sollte ich meiner Verfolgerin keine Beachtung schenken. Aber ich konnte sie einfach nicht vergessen.
»Im Juli?« Seiji überlegte. »Da müsste ich ein paar Termine verlegen. Kann ich dir meine endgültige Antwort später geben?«, sagte er und ging schnurstracks davon. Wenn Seiji von sich aus aufbrechen wollte, duldete er keinen Aufschub. Wollte ich jedoch von mir aus gehen, gab er sich jedes Mal enttäuscht.
Es war Ende Juni, und Momo würde bald die letzten Arbeiten im Schuljahr schreiben. Sie war kaum zu Hause, als sie schon erklärte, sie wolle in der Bibliothek arbeiten, und wieder ging. Ihre Haut wirkte noch fester als vor einem Monat. Sie veränderte sich mehr und mehr. Ob jemand Bestimmtes dahinter steckte? Jemand, den ich nicht kannte. Vielleicht ein Mann? Oder eine Frau? Immer mehr unbekannte Seiten taten sich mir auf.
Momo, bitte, zeig mir deine unbekannten Seiten nicht, bat ich inbrünstig. Behalte sie für dich.
Momo winkte mir kurz zu, und weg war sie. Erschöpft schleppte ich mich in mein Arbeitszimmer.
Plötzlich war es Juli. Am schnellsten vergeht die Zeit weder am Anfang des Jahres noch am Ende, sondern in der Mitte.
Momos Worte fielen mir wieder ein: »Ich würde mich mehr über etwas freuen, das ich mir gewünscht habe, als über eine Überraschung.« Ich hatte nie erfahren, was es war, das sie sich wünschte. Derweil war die Zeit verstrichen.
Der Juli kam mit großer Hitze. Die Hortensien, die meine Mutter liebevoll in unserem kleinen Garten gepflanzt hatte, verwelkten. Nicht nur weil die Blüte zu Ende war. Ihre Stengel und Blätter wurden braun, und sie waren auch mit viel Wasser und Dünger nicht zu retten.
»Ist das heiß«, stöhnte Momo. »Wenn ich ein gutes Zeugnis bekomme, kaufst du mir zwei Sommerkleider, ja?«, bat sie mich. »Waren es Kleider, die du dir damals gewünscht hast?«, fragte ich. Momo schüttelte den Kopf. Nein, etwas Schwieriges. Wahrscheinlich.
»Wie schade, dass meine Hortensien verwelkt sind«, sagte meine Mutter. »Ob Hortensien besonders hitzeempfindlich sind? Mir selbst ist gar nicht so heiß. Vielleicht ist man im Alter abgestumpft.«
Wir drei unternahmen einen Ausflug in den botanischen Garten. Vorher bereiteten wir ein Picknick vor: Omelette und Makrele, Rindfleisch mit Glasnudeln in Sojasoße gekocht, Zuckererbsen, Karottensalat und Reisklöße. Momo hatte die Zuckererbsen blanchiert. »Du musst sie sofort vom Feuer nehmen«, mischte meine Mutter sich ein. »Weiß ich, einmal aufkochen lassen und sie dann gleich aus dem Wasser nehmen, stimmt’s?« Wir schwatzten und lachten beim Kochen. Es machte großen Spaß.
Hinter dem botanischen Garten gab es ein Wäldchen, in dessen Schatten die Leute spazierengingen. Momo hob ein großes grünes Blatt vom Boden auf. Es war von vielen feinen Adern durchzogen.
»Wie ausführlich das Blatt geädert ist«, sagte Momo.
»›Ausführlich‹? Sagt man da nicht ›fein‹?«, fragte meine Mutter und lachte.
»Sehr ausführlich.« Momo betrachtete das Blatt.
Wir entschieden uns, unser Picknick dort zu machen, wo sie das Blatt aufgehoben hatte. Wir breiteten eine Decke aus, zogen die Schuhe aus und ließen uns nieder. Durch die Decke war die Kühle des Bodens zu spüren, denn die Stelle lag den ganzen Tag über im Schatten.
»Heiß«, sagte meine Mutter plötzlich.
»Aber hier ist es doch ziemlich kühl«, erwiderte Momo.
Ihre Stimmen waren ganz nah und klangen doch fern.
»Zu Hause war es viel heißer, Oma. Dir kann man es auch nie recht machen.« Momo schüttelte den Kopf. Ihre Stimme entfernte sich immer mehr. Gefahr, dachte ich. Wer war in Gefahr? Momo? Ich? Oder meine Mutter?
An diesem Tag geschah jedoch nichts. Unsere leeren Picknickdosen und das »ausführlich geäderte« Blatt im Gepäck, fuhren wir mit dem Bus nach Hause. Bis in den späten Abend hatten wir drei vergnügt zusammen gesessen.
Auf den sechsten Sinn ist kein Verlass.
Deshalb will ich die Ahnung von Gefahr, die ich an jenem Tag verspürt hatte, nicht mit dem folgenden Ereignis in Verbindung bringen.
Momo war verschwunden.
Als sie um neun Uhr abends noch immer nicht zu Hause war, rannte ich als erstes zur Bücherei. Sie war natürlich längst geschlossen, sie machten bereits lange vor halb acht zu - das war die Zeit, für die Momo ihre Rückkehr angekündigt hatte.
»Öffnungszeiten
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