Am Meer ist es wärmer
Zweimal am Tag staubsaugte ich. Was ich bei einer so kleinen Wohnung nicht als Anstrengung empfand. Momo trug immer viel Sand und Schmutz hinein.
Die Waage hatte einen orangefarbenen Rand und war mit Kork überzogen. Wir hatten sie von einem mit Rei befreundeten Ehepaar zur Hochzeit bekommen. Rei mochte die Waage nicht.
»Was hast du dagegen?«, fragte ich.
Er runzelte die Stirn. »Sie ist irgendwie so pseudo-kultiviert.«
Du bist ja komisch. Ich lachte. Lach nicht, sagte er. Bei »lach nicht« zerfloss ich. Widerstandslos. Damals.
Das Wort Krankheit kam mir in den Sinn. Ob Rei krank gewesen war? Hatte er erfahren, dass er krank war, und seinen Tod vorhergesehen? Und war deshalb fortgegangen? Manchmal war mir das zu grausam. Dann wieder wünschte ich, es wäre so gewesen.
In jedem Fall waren die, die zurückgelassen wurden, zu bedauern. Aber wer ist bedauernswerter - der, der fortgeht oder der, der zurückbleibt?, fragte die Frau. Darüber will ich nicht nachdenken, erwiderte ich brüsk, und sie verschwand sogleich im Meer. Ihre Beine wirkten sehr weiß.
Am nächsten Morgen stand ich spät auf. Am Abend hatte ich etwas Leichtes gegessen und war bereits um zehn zu Bett gegangen. Ich hatte das Gefühl, unendlich lange schlafen zu können. Wie Momo.
Ich fragte mich, ob der Festlärm zu hören war, und trat auf die Veranda hinaus, aber nur die Wellen rauschten. Das Hotel lag weit von der Straße zurückgesetzt, und vom Verkehr war nichts zu hören. Zum Frühstück trank ich nur einen Kaffee und fuhr dann mit dem Bus zum Hafen.
»Können Sie mir sagen, wo das Fest stattfindet?«, fragte ich die Verkäuferin in einer Sake-Handlung. Am Hafen waren mehr Menschen unterwegs als beim letzten Mal, aber besonders festlich ging es nicht zu, kein Lärm, keine Farben. Von den Mikoshi (*) - den Sänften, in denen man Gottheiten durch den Ort trägt - war nichts zu sehen.
»Um diese Zeit sind sie sicher noch an den Schreinen«, sagte die Verkäuferin etwas gelangweilt.
Vergeblich hielt ich Ausschau nach der Frau. Wenn man sie braucht, ist sie nicht da, murmelte ich, aber da erschien sie auch schon.
»Aha, du kommst, wenn ich dich rufe.«
»Zufall«, erwiderte sie vollkommen ernst.
»Das Fest fängt gerade erst an«, sagte ich, und sie nickte. Wir wandten uns vom Hafen ab und traten in eine schmale Gasse. Sie führte steil bergauf. Die unmittelbare Küste lag nur wenige Meter über dem Meeresspiegel, doch direkt dahinter wölbten sich die Hügel der Halbinsel. Man konnte sie nicht gerade als Berge bezeichnen, aber einige waren recht hoch.
Ich geriet außer Atem. Der Frau schien die Steigung nichts auszumachen. Sie schwebte hinter mir her.
»Wohin willst du?«, fragte sie.
»Nirgendwohin. Ich gehe einfach.«
Ihr Gesicht verfinsterte sich.
»Was ist?«, fragte ich.
»Ich musste an etwas denken.«
Es wurde dunkler. Eine Wolke war aufgezogen und verdeckte die Sonne. Als ich zum Himmel aufsah, schien die Sonne dahinter hervor. Dann zog sie weiter, und es wurde wieder gleißend hell.
»Gehen wir zum Kap?«, fragte sie und war, ehe ich zustimmen oder ablehnen konnte, verschwunden.
Als ich zum Himmel schaute, blendete mich das ungefilterte Licht. Einen Moment lang konnte ich nichts sehen.
Rei, rief ich.
Es war nie leicht für mich gewesen, ihn direkt mit seinem Namen anzusprechen, doch manchmal, wenn er nicht da war, sagte ich seinen Namen vor mich hin.
Rei.
Mitunter flüsterte ich ihn auch, wenn er neben mir lag und schlief. Wenn er im Büro war, tat ich es auch tagsüber, vor allem nachdem ich Momo gestillt hatte.
In Wahrheit erinnerte ich mich doch an etwas, das in Zusammenhang mit 21.00 Uhr stand.
Drei Tage vor Reis Verschwinden saß ich, nachdem ich Momo schlafen gelegt hatte, am Esstisch und las die Zeitung, die Rei am Morgen gelesen hatte. Ich blätterte die Seiten um, deren Ränder, wenn jemand sie einmal berührt hatte, nicht mehr so scharf waren wie bei Lieferung. Ich las das Fernsehprogramm, den Gesellschafts-, den Lokal- und den Sportteil, dann blieb mein Blick an der Familienseite hängen.
»Abgrund«, stand da als Überschrift. Ich konnte den Blick nicht abwenden.
An den Inhalt des Artikels kann ich mich nicht erinnern. Nur dass ich »Rei!« rief, als ich die Zeichen sah.
Es war totenstill. In einer Ecke des Wohnzimmers lagen ein paar Bauklötze, mit denen Momo am Abend gespielt hatte. Obwohl die rotbemalten, runden und eckigen Klötzchen, die aussahen als wüchsen sie aus dem Parkett,
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