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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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eigentlich ganz alltäglich waren, vermittelten sie mir ein ungutes Gefühl.
    Rei!, rief ich noch einmal. Als ich auf die Uhr schaute, war es neun, und an diesem Tag kam es mir vor, als würde ich eine Antwort auf meinen Ruf hören, der für gewöhnlich ins Leere ging.
    Kei.
    Von der Wohnzimmerdecke ertönte Reis Stimme. Sehr leise.
    Mir wurde unheimlich, also faltete ich unter lautem Geraschel die Zeitung zusammen. Reis Stimme verschwand sofort, ebenso der Nachklang meiner eigenen.
    Auch als ich die Gasse in Manazuru hinaufstieg, rief ich nach Rei. Genau wie damals.
    Schweiß rann mir von der Stirn und brannte mir in den Augen. Über mir der Ruf eines Milans. Mein leerer Magen machte sich bemerkbar. Ich war erleichtert über die körperliche Empfindung. Am Ende einer besonders schmalen Gasse traf ich auf ein chinesisches Restaurant. Energisch schob ich die Tür auf. Meine Augen waren nicht an das Dunkel im Inneren gewöhnt. Ich tastete mich voran, nahm einen Stuhl und setzte mich.
    »Was hast du gegessen?«, fragte die Frau.
    »Wantansuppe.«
    »Hätte ich auch gern gegessen.«
    Nach dem Essen setzte ich meinen Weg fort. Ich irrte von einer Gasse in die andere, bergauf und bergab, bis mir die Füße schmerzten. Unterwegs stieg ich in den Bus, der zur Spitze der Landzunge fuhr. Als ich das letzte Mal allein hier herumgewandert war, ging der Winter gerade zu Ende.
    »Steig aus«, forderte die Frau mich auf.
    Wir sind doch noch nicht an der Endstation, außerdem bin ich müde, sagte ich. Sie funkelte mich böse an. Ist ja schon gut, sagte ich und drückte den Halteknopf. Die Haltestelle lag einsam in einem Forst. Das Laub war so dicht, dass das Licht nur schwach durch die Bäume auf den Weg drang.
    Weißt du, sagte die Frau.
    In diesem Wald ist eine Frau gestorben.
    Sie hatte kaum angefangen zu erzählen, als der Himmel sich verdunkelte. Aus der Ferne ertönte tiefes Grollen.
    »Donner?«
    »Ein Taifun«, sagte die Frau.
    Ich folgte der Frau, als zöge sie mich an einer Leine hinter sich her. In dem Forst, den sie Wäldchen nannte, gab es einen Weg für die Holzfäller. Wir gingen bald nach rechts, bald nach links, so dass ich mit der Zeit jeden Richtungssinn verlor. In Abständen grollte der Donner. Die Frau wurde an eine Kiefer gehängt, erzählte sie leise. Wieder donnerte es. Der Baum ist jedoch später bei einem Taifun umgestürzt, fuhr sie fort. Die Rufe des Milans waren verstummt. Weil der Wind sich gedreht hat, sagte sie.
    Der Weg führte bergab. Zur Küste hin wurde er immer steiler. Ab und zu konnte man sehen, wie sich die Wellen an den Felsen brachen.
    Sie war ein nettes Mädchen, murmelte die Frau.
    Wer?
    Die Aufgehängte.
    Hör auf mit dieser grusligen Geschichte, sagte ich, aber meine Verfolgerin dachte natürlich nicht daran.
    »Man hatte sie an den Füßen aufgehängt. Sie waren mit Glyzinienranken gefesselt.«
    Die Abstände zwischen den Donnerschlägen wurden kürzer. Ab und zu blitzte es. Die Frau streckte mir ihre Hand entgegen. Auf dem feuchten Boden fanden die Füße nur schwer Halt, und mehrmals wäre ich fast ausgerutscht. Ihre Hand war kalt. Ich spürte, wie ich mich von den Fingerspitzen her aufzulösen begann.
    Da, guck! Sie stieß mich an, und ich blickte aufs Meer. Die Wellen tosten, aber hier hielten große Felsen die Brandung ab, und das Wasser war ruhig.
    Ist es hier nicht zu gefährlich, wenn ein Taifun im Anzug ist?, sagte ich.
    Die Frau hörte gar nicht zu. Sie ließ meine Hand nicht los. Obwohl ihr Griff gar nicht so fest war, konnte ich mich nicht befreien. Meine Auflösung hatte begonnen, und ich fühlte mich bis in die Arme gelähmt.
    Schau genau hin, sagte sie.
    Die kleinen Fische schossen wie verrückt in dem Tümpel zwischen den Felsen herum. Es ist besser, wenn sie sich bei dieser Brandung dort verstecken, sagte ich leise. Die Frau lachte. Mir schauderte bei ihrem kargen Lachen, das keine Gefühlsregung preisgab.
    Sie erzählte weiter. Es wurde von Geistern entführt, das aufgehängte Mädchen. Sie war ein gutes Kind, wirklich. Am frühen Morgen ging sie schon in den Wald, um Brennholz zu holen, und nachmittags sammelte sie am Strand Muscheln und Seetang. Abends putzte sie und webte. Sie arbeitete ohne Rast und Ruh, und eines Tages vernahm sie im Wald eine Stimme. Die sagte, geh morgen nicht in den Wald und zum Strand.
    »Aber das Mädchen ging trotzdem, nicht wahr?«, fragte ich. Die Frau nickte.
    Ja, sie ging und wurde von jenem Tag an nicht mehr gesehen. Man suchte und

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