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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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auf den Schultern, neben den anderen kleinen Kindern her.
    Momo blickte mit ernster Miene auf die anderen Kinder hinunter, dann schaute sie geradeaus in die Ferne, während ihre Beinchen Reis Schultern umklammerten.
    »Wer sitzt denn da auf Papas Schultern?«, ertönte eine freundliche Stimme aus dem Lautsprecher. Die Leiterin des Kindergartens, die den Wettlauf kommentierte, feuerte die Kleinen an. »Los, Kinder, jetzt alle durchhalten!«
    Die anderen Kinder bewegten sich viel schneller als Rei, und eins nach dem andern erreichte die Ziellinie. Ohne sich im geringsten zu beeilen, schlenderte Rei gemächlich über den Platz.
    »Nimm mir Momo nicht weg«, dachte ich. Oder vielleicht auch: »Verlass mich nicht.«
    Mein Herz hämmerte, weil wir drei getrennt waren. Ich war schweißgebadet. Die Sonne war einfach zu heiß. Rei und Momo erreichten das Ziel. Er hob sie von seinen Schultern, und Momo kam auf mich zugerannt.
    »Mami!«, rief sie.
    »Kei, was ist denn los?«, sagte Rei. Ich war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Erschöpft legte ich mich auf die Matte und schloss die Augen.
    »Du bist schwach«, sagt die Frau.
    »Findest du?«, frage ich.
    Ich bin in Manazuru. Obwohl ich meinen Körper kaum spüre, und von der Landschaft nur Bruchstücke vorhanden sind, weiß ich, dass ich noch immer in Manazuru bin.
    »Naja, immerhin bist du am Leben.«
    »Was man so Leben nennt.«
    »Zumindest bist du noch nicht tot. Du solltest nicht zu hohe Erwartungen hegen.«
    Hohe Erwartungen, denke ich abwesend. Ob Rei tot ist?
    »Wenn du dich nicht richtig an ihn erinnerst, kannst du ihn nicht sehen - den Mann.«
    »Was? Ist Rei denn noch am Leben?«
    »Die Erinnerung ist die Hauptsache«, sagt die Frau nur und verschwindet. Wie immer, wenn es wichtig wird.
    Trotz Erschöpfung mache ich mich wieder auf den Weg. Langsam schleppe ich mich zum Strand. Die Straße ist von Ständen gesäumt. Ihre Lampen leuchten und funkeln.
    Auf dem dunklen Strand stehen ein Mann und eine Frau. Nahe beieinander. Die Frau würgt den Mann. Er wehrt sich nicht. Und? Kriegst du keine Luft? Leidest du?, fragt sie.
    Ja, antwortet er. Es ist Reis Stimme. Die Stimme, die die Fragen stellt, ist meine eigene. Wann habe ich ihn getötet?
    Das Paar verschwindet wieder in der Dunkelheit. Ein Baby erscheint. Mein Kind, es ist von Rei. Aber ich habe es nicht zur Welt gebracht. Ich habe es abgetrieben, weil er gleich nach der Empfängnis verschwunden war. Lange hatte ich gezögert. Vielleicht würde er ja ganz plötzlich wieder auftauchen. Ich schwankte zwischen Resignation und Hoffnung.
    Es war Spätsommer, als er verschwand. Die Zikaden schrillten noch, und Momo wachte morgens mit verschwitzter Stirn auf. Das Kindergartenfest hatte Anfang September stattgefunden. Mitte September war Rei schon fort. Er war gegangen, ohne zu wissen, dass ich schwanger war.
    Obwohl ich das Kind gar nicht geboren habe, hat es feste Umrisse und krabbelt krähend auf dem Strand herum. Sein Haaransatz ähnelt dem von Rei, und seine Stimme klingt kräftig, lauter als die Zikaden damals im Spätsommer.
    Dieses Kind existiert nicht, sage ich zu mir selbst, und imitiere die Frau. Dennoch verschwindet das Baby nicht. Die Stimme, die in mir widerhallt, klingt wie die der Frau, doch von außen dringt mir meine eigene ans Ohr.
    Ich habe Rei nicht getötet. Plötzlich wechselt die düstere Szene, so abrupt, als schnitte man einen gespannten Faden in der Mitte durch, und ich bin wieder am Swimmingpool. Träge rührt der Deckenventilator die laue Luft.
    Ich presse meine Wange an das Fenster des Zuges, der noch nicht abgefahren ist.
    Es ist noch Hochsommer, aber in anderthalb Monaten kommt der Herbst. Statt Zikadengeschrill wird das leise Zirpen der Grillen die Luft erfüllen.
    »Manazuru«, sage ich laut.
    Der Zug verlässt den Bahnhof. Von meinem Platz auf der Seeseite betrachte ich die vorüberziehende Landschaft. Wir kommen an Häusern, dann an dichtem Wald vorbei. Nach einer Weile fährt der Zug in einen Tunnel.
    Hinter dem Tunnel endet Manazuru. Die See ist rauh. Zwei Kombis fahren hintereinander auf der Küstenstraße. Es sieht aus, als wurden die Wellen sie gleich verschlingen, aber das ist eine Täuschung. Je weiter der Zug sich von Manazuru entfernt, desto weiter entfernen sich auch die illusionären Szenen. In Manazuru hätten die Wellen die beiden Wagen sofort ins Meer gespült.
    »Manazuru« sage ich, und dann: »Tokio«.
    Der Zug verbindet Manazuru und Tokio. Er ist das Gefäß, das mich

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