Am Meer ist es wärmer
aus der Welt der Illusion in die Wirklichkeit transportiert und umgekehrt. Er trägt mich von einem Leben in ein anderes.
Ich denke an Seiji.
Seiji ist in Tokio. Sobald ich ankomme, werde ich ihn anrufen. Vielleicht können wir uns wenigstens kurz sehen. In mir schwappt noch immer das, was in meiner Illusion von Rei abgegeben wurde. Bis in die Fingerspitzen spüre ich noch, wie es sich anfühlte, als ich Rei die Kehle zudrückte. All diese Gefühle werden verschwinden, wenn der Zug Kozu erreicht.
Leise schaukelnd trägt er mich geradewegs in die Gegenwart.
6
Sachte zog ich den Rollladen hoch. Außer mir war noch niemand wach.
Die Blätter der Aralie in unserem kleinen Garten glänzten üppig grün, und der einzige Kakibaum trug bereits kleine, grüne, harte Früchte.
In Gedanken versunken betrachtete ich sie.
Ich hätte mich gern mit Seiji getroffen, aber er hatte keine Zeit.
»Ich habe zu viel zu tun«, sagte er nur und legte auf.
In Tokio verging die Zeit schnell. Momos Schulfest war vorbei, und sie hatte zwei Tage frei. »Wollen wir nicht mal essen gehen?«, fragte ich sie, aber sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe zu viel zu tun.«
Dennoch hielt sie sich fast die ganze Zeit in ihrem Zimmer auf. Einmal ging sie kurz in die Stadt und kam mit einer kleinen Tüte zurück. CDs oder Bücher? Ich fragte sie nicht und sah nur zu, wie sie in ihrem Zimmer verschwand.
Mehrmals hätte ich sie gern gefragt, mit wem sie damals am Fluss gewesen war, aber irgendwann verging auch mein Drang, es zu erfahren.
Seither war sie kaum noch in die Bibliothek gegangen. Meist hielt sie sich in ihrem Zimmer auf, und ich spürte ihre Gegenwart kaum.
Ein Braunohrbülbül flog in den Kakibaum und stieß einen schrillen Schrei aus. Ein weiterer Bülbül ließ sich auf einem schrägen Ast nieder. Nach einer Weile wechselte er auf einen Ast darunter. Der erste setzte sich neben ihn. Dann huschten sie hin und her, saßen mal auf dem oberen, dann wieder auf dem unteren Ast und riefen einander zu. Schließlich gesellte sich ein dritter Vogel zu ihnen, so dass ich nicht mehr wusste, welcher Vogel wo saß oder rief.
Das Licht wirkte neu. Wohl, weil es noch so früh am Morgen war. Ein reines, noch unverbrauchtes Licht. Es roch nach irgendetwas. Mir fiel ein, dass ich gerade Niboshi - kleine getrocknete Fische - aufkochte, die ich am Abend eingeweicht hatte. Ich eilte in die Küche und drehte den Herd kleiner. Die Fische schwammen auf der Brühe. In einem zarten Schaum.
Ich drehte das Gas ab und schöpfte die Fischchen mit einem kleinen Sieb ab. Ein Windstoß ließ einen mit Magneten an der Kühlschranktür befestigten Zettel rascheln.
Die Tür zum Garten stand offen.
Wieder raschelte es. Der Zettel flatterte, beinahe hätte der Wind ihn abgerissen. Ein Bülbül schrie, und wieder fegte ein Windstoß durch die Küche.
Als Momo den Kopf senkte, glänzten die flaumigen Härchen in ihrem Nacken.
Sie mochte es nicht, wenn ich sie anfasste, und so schaute ich sie nur an.
»Oma, morgen brauche ich kein Obentō (*) . Wir kochen in der Schule.«
Sie sprach jetzt fast nur noch meine Mutter an. Auch körperlich schien sie meine Nähe zu meiden.
»War ich auch so?«, fragte ich meine Mutter.
»Du warst viel unausgeglichener.«
»Ich war unausgeglichen?«
»Ja. Einmal völlig unzugänglich, dann plötzlich wieder ganz offen. Manchmal benahmst du dich wie ein kleines Kind und im nächsten Moment wie eine Erwachsene.
»Das liegt also am Alter?«
»Man macht es sich zu einfach, wenn man alles auf das Alter schiebt«, sagte meine Mutter und schlug die Augen nieder. »Es ist vielleicht eher der Anfang von etwas.«
»Der Anfang von was?«
»Der Anfang vom Ende vielleicht?«
»Vom Ende!«
»Ja. Die kleine Kei gab es nicht mehr. Das meine ich mit Ende. Aus ihr war ein anderer Mensch geworden.«
»Das klingt so gewichtig.« Ich lachte. Meine Mutter stimmte ein.
»Erwachsen zu werden ist nicht einfach. Ich fühle mich noch immer unausgeglichen.« Wieder lachten wir.
»Du würdest Momo gern öfter berühren, nicht?«, sagte meine Mutter ruhig. »Aber man darf andere Menschen nicht so einfach anfassen«, fügte sie hinzu.
Ein unerklärlicher Schauer ergriff mich, und ich sah meiner Mutter ins Gesicht. Sie sah aus wie immer.
»Auch das eigene Kind nicht? Mein eigenes Fleisch und Blut?«, fragte ich hastig.
»Ach, Kei, jetzt redest du selbst wie ein Kind.« Sie lachte wieder. »Was denkst du denn? Du warst doch früher
Weitere Kostenlose Bücher