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Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Am Mittwoch wird der Rabbi nass

Titel: Am Mittwoch wird der Rabbi nass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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nichts weiter zu bieten als unsere Moral und unseren Lebensstil. Und wenn er sagt, dafür interessiere er sich ja gerade, daran möchte er teilnehmen, antworte ich ihm, das solle er nur tun, nichts könne ihn daran hindern, ein moralischer Christ stehe in unseren Augen ebenso hoch vor Gott wie der Hohepriester von Israel.»
    «Wollen Sie sagen, das ist alles, was unsere Religion darstellt? Nur die Moral?»
    «Das wäre alles, wenn wir Roboter mit einem Verstand wären, der von Computern programmiert wurde. Da wir jedoch Menschen sind, mit allen üblichen menschlichen Fehlern und Unzulänglichkeiten, brauchen wir Riten, Symbole und Zeremonien, die uns daran erinnern und uns zu einer festen Gruppe zusammenschmieden. Außerdem lernen einige von uns auf diese Weise besser. Und weil wir uns erinnern, gewinnen unsere Geschichte und unsere Tradition an Bedeutung. Die Basis unserer Religion aber ist unsere Moral.»
    «Aber manchmal nehmen Sie doch Konvertiten auf, nicht wahr?»
    Der Rabbi nickte. «Ja. Ein Übertritt erfolgt zumeist bei der Eheschließung mit einem Juden. Es gibt bestimmte Praktiken und Zeremonien, im Grunde Stammesbräuche, die unsere Moralvorstellungen ergänzen und vertiefen. Und die Konversion ist weitgehend eine Aufnahme in den Stamm. Der Konvertit nimmt einen neuen Namen an, und es ist, als wäre er als Jude geboren. Doch das ist etwas ganz anderes als der Übertritt zu einer der mystischen Religionen.»
    «Aber hat es denn nicht auch jüdische Mystiker gegeben?», wandte Dr. Muntz ein. «Ich habe gelesen …»
    «O ja», unterbrach ihn der Rabbi ungeduldig. «Die Essener, die Gemeinde von Qumran, die Kabbalisten, die Sabbatbewegung und, wie ich hinzufügen möchte, die Christen – sie alle waren mystische Bewegungen innerhalb des Judentums. Aber wir schüttelten sie ab, da sie vom Standpunkt des traditionellen, zentralen Judentums aus Irrtümer waren. Nur die Chassidim sind übrig geblieben, und das nur, weil ihr Mystizismus die traditionelle Moral und die jüdischen Gebräuche, die diese Moral widerspiegeln und symbolisieren, ergänzt. Die chassidischen Legenden von Wunder wirkenden rebbes sind weiter nichts als abergläubischer Unsinn. Ein chassidischer rebbe jedoch, der aufgrund seines wohltätigen Lebens, seiner Besorgnis um die Menschen zum Heiligen geworden ist, der wird von allen am meisten verehrt.»
    Rabbi Small beugte sich vor. «Ich bestreite keineswegs die Gültigkeit der mystischen Erfahrung. Ich neige nur eben nicht dazu. Vielleicht ist das sogar ein Fehler. In diesem Fall jedoch übertreten wir ein Talmudgesetz, das eindeutig moralisch ist – und speziell jüdisch, möchte ich hinzufügen –, um nicht die Religion zu fördern, sondern die religiöse Schwärmerei. Sie deuten an, dass Mr. Aptaker unsere Rücksichtnahme nicht verdient. Was aber ist mit Mr. Goralsky?»
    Das Telefon klingelte, der Rabbi nahm den Hörer ab. Während er lauschte, wurde seine Miene ernst. Schließlich sagte er: «Ja, gut. Ich komme sofort.» Er wandte sich an den Arzt. «Es tut mir Leid, aber Sie müssen mich entschuldigen.»

50
    Als er auf dem Polizeirevier eintraf, sah der Rabbi im äußeren Büro vor dem Schreibtisch des Sergeant Akiva auf einer Bank sitzen. Er saß mit geschlossenen Augen und einem Lächeln da, als hätte er einen schönen Traum. Der Rabbi begrüßte den Sergeant und nickte fragend zu dem jungen Mann hinüber.
    «Der sitzt schon seit zehn oder fünfzehn Minuten so da», erklärte der Sergeant mit leiser Stimme. «Er kam aus dem Büro des Chief und erklärte, er werde hier auf Sie warten. Er fragte mich, wo Osten ist, ging in die Ecke und blieb da stehen wie ein ungezogenes Schulkind. Dann fing er an, sich zu wiegen und zu verbeugen, als machte er Freiübungen oder hätte einen Anfall. Und die ganze Zeit flüsterte er vor sich hin. Hören konnte ich nichts, aber ich sah, wie sich seine Lippen bewegten.»
    «Das ist seine Art zu beten», erklärte der Rabbi lächelnd.
    «Ach, wirklich? Na ja, nach einer Weile setzte er sich hin und machte die Augen zu. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass er schläft.»
    Als sich der Rabbi neben ihn setzte, öffnete Akiva die Augen und sagte mit breitem Lächeln: «Hallo, Rabbi! Ich danke Ihnen sehr, dass Sie gekommen sind.»
    «Der Sergeant sagte mir, dass Sie gebetet haben.»
    «Das stimmt. Ich habe immer wieder das Schma Israel gesprochen.»
    «Warum das Schma Israel ?»
    «Weil es das einzige Gebet ist, das ich auswendig kann», sagte er

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