Am Montag flog der Rabbi ab
verstummte, bemühte sich, den trostlosen Eindruck abzuschütteln, und begann weiterzusprechen.
«Als Rabbi bin ich von Berufs wegen fromm. Ich bete zur festgesetzten Zeit und auf eine bestimmte Weise. Manches davon ist Gewohnheitssache, genau wie Zähneputzen. Manches wiederum habe ich bewusst praktiziert, weil ich es für die Erhaltung der Religion und des Volkes wichtig fand, wie der Engländer, von dem man erwartet, dass er sich selbst im Urwald zum Dinner umzieht. Aber hier ist es anders. Hier brauchst du keine strikten Regeln zu befolgen, weil du es nicht zum Prinzip machen musst. Ich stelle mir vor, dass derselbe Engländer in London es mit dem Umziehen zum Dinner viel weniger genau nimmt. Es kann sein, dass alles, was wir im Lauf der Jahre dazugetan haben, die Gebete, das besondere Zeremoniell, um dieses Prinzips willen geschah und aus dem Grund auch notwendig war. Jetzt aber kann es sein, dass der Grund nicht mehr existiert und damit die Notwendigkeit entfällt.»
«Komisch», sagte Miriam leise.
«Was ist daran komisch?» Er sah sie aus den Augenwinkeln an.
«Dass du ins Heilige Land kommst und feststellst, alle heiligen Dinge sind in Wirklichkeit gar nicht heilig.»
«Ich verstehe, was du meinst.» Er lächelte. «Aber es könnte doch ähnlich wie bei meinem Freund Billy Abbot sein, der sich nicht als Jude fühlt, weil er unter Juden ist. Vielleicht sind heilige Dinge im Heiligen Land nicht am Platz. Ich glaube nicht, dass ich mich sehr wohl fühlen würde, wenn es im wahren Sinne des Wortes ein heiliges Land wäre. Erinnere dich, wie entgeistert du warst, als du die erste israelische Zeitung gelesen und darin Berichte über Einbrüche, Diebe und Prostituierte gefunden hast. Es erschien dir nicht recht, dass es im Heiligen Land Diebstahl und Prostitution gibt.»
«Nicht so sehr das, sondern vielmehr, dass die Prostituierte Rahel und der Dieb Baruch hießen», entgegnete sie.
«Und trotzdem – gäbe es keine Prostituierte namens Rahel und keinen Dieb namens Baruch, wäre es keine Gesellschaft, die hier begründet wurde, sondern eher ein Museum. Und einem Museum kann man durchaus einen kurzen Besuch abstatten, doch du könntest nicht darin leben. Mit Israel ist es aber genau umgekehrt. Ich glaube nicht, dass ich zu einem kurzen Besuch herkommen würde, während ich vielleicht gern hier leben möchte.»
«Du denkst also wirklich ernsthaft daran?»
«Allerdings.»
«Und deine Arbeit als Rabbi?», fragte sie ruhig. «Willst du die aufgeben?»
Er antwortete nicht sofort, und sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Schließlich sagte er: «Ich habe keine Angst, mich damit auseinander zu setzen, dass ich möglicherweise einen Fehler gemacht haben könnte.»
21
Jeden Sonntagnachmittag, wenn das Wetter und die Straßenverhältnisse es nur irgend möglich machten, fuhr Al Becker bei seinem alten Freund Jacob Wasserman vorbei, um ihn abzuholen. Früher hatten sie sich sonntags bei den Vorstandssitzungen getroffen, doch da beide nicht mehr daran teilnahmen, war die gemeinsame Spazierfahrt gewissermaßen der Ersatz dafür. Sie unterhielten sich vorwiegend über Angelegenheiten des Tempels. Das war das einzige Interesse, das sie teilten.
An einem milden Märztag, einem Vorboten des in New England manchmal so schönen Frühlings, wartete Wasserman bereits im Mantel auf der Veranda, als Becker vorfuhr.
«Ich hab ’ne Karte vom Rabbi bekommen», sagte Becker statt einer Begrüßung.
«Ich auch.»
«Was hat er dir denn geschrieben?» Becker war ein untersetzter Mann mit einer heiseren Bassstimme, die immer aufzubegehren schien. Diese kämpferische Wirkung wurde noch dadurch gesteigert, dass er das Gesicht beim Sprechen seinem Partner zudrehte, als wolle er ihn herausfordern.
«Was man so auf einer Ansichtskarte schreibt. Vorn war die Klagemauer drauf. Auf der Rückseite stand, es geht ihm gut. Ehrlich gesagt – ich glaube, die Rabbitzin hat sie geschrieben und er nur unterzeichnet.»
«Dasselbe bei mir. Ich muss dir sagen, Jacob, manchmal versteh ich den Rabbi nicht. Schließlich sind wir seine stärksten Stützen im Tempel und was weiß ich wie oft für ihn auf die Barrikaden gegangen. Na, und was tut er? Er schickt uns ’ne schäbige Postkarte. Und die hat noch dazu seine Frau geschrieben.»
«Na und? Schreibst du Briefe, wenn du Urlaub machst?»
«Das ist was anderes.»
«Du schickst Ansichtskarten – so wie letztes Jahr aus Kalifornien. Und Mrs. Becker hat sie geschrieben. Na, hab ich
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