Am Montag flog der Rabbi ab
schweigend da, die Augen fest geschlossen, die Stirn in angestrengter Konzentration gerunzelt. Schließlich sagte er: «Es ist V. S. Markevitch, der darum bittet, lieber Gott», und trat zurück.
Immer neue Menschen strömten herbei, und als sie sich gerade zum Gehen wandten, sahen sie eine Gruppe Amerikaner, wohlhabende Leute in mittleren Jahren wie sie. Die Führung hatte ein Mann, dessen schwarzer Hut und gediegenerer Aufzug die Vermutung nahe legte, dass er der Rabbi war und zugleich als Reiseleiter fungierte. «Verteilen Sie sich und stellen Sie sich an der Mauer auf», befahl er. «Keine Angst. Genieren Sie sich nicht. Sie haben genauso viel Recht hier wie jeder andere. Wenn Sie sich jetzt bitte Seite 61 zuwenden wollen …»
Markevitch sah seinen Teilhaber vielsagend an und nickte in Richtung auf die betenden Amerikaner.
Sie verließen die Klagemauer und nahmen ein Taxi zum Zion Square. Von dort schlenderten sie über die Ben Yehuda Street und Jaffa Road, das Geschäftsviertel der Neustadt. Sie waren offensichtlich enttäuscht über die engen Straßen und die kleinen, armselig dekorierten Läden.
«’ne Fifth Avenue ist das garantiert nicht, was, Katz?»
«Von Fifth Avenue kann keine Rede sein, nicht mal von Boylston Street oder Washington Street, aber da siehst du, wie wenig Kapital du hier brauchst, um ein Geschäft aufzumachen.»
Der Rabbi dachte, sie wären vielleicht müde, und steuerte sie in ein nahe gelegenes Café. Sie bestellten und sahen sich die anderen Gäste an, von denen mehrere Zeitungen und Zeitschriften lasen.
«Sie kommen her, um zu lesen?», fragte Katz.
«Sie kommen, um ihre Freunde zu treffen, um zu lesen, um zu reden, um sich bei einer Tasse Kaffee etwas von dem täglichen Einerlei zu erholen», erklärte der Rabbi.
«Von ’ner Umschlagquote bei Kunden haben die hier wohl noch nie was gehört», meinte Markevitch und setzte seine Tasse ab. «Wohin jetzt, Rabbi?»
Der Rabbi nickte der Kellnerin zu, die zu ihnen kam. «Wünschen Sie noch etwas, Gentlemen? Dann also drei Kaffee – macht drei Pfund.»
«Ich dachte, wir könnten uns jetzt mal die Universität ansehen», schlug der Rabbi vor, während er in die Tasche griff.
Markevitch legte ihm die Hand auf den Arm. «Kommt gar nicht infrage, Rabbi, wenn V. S. Markevitch isst, dann zahlt V. S. Markevitch auch. Wie viel macht es?»
«Nein, Mr. Markevitch.» Der Rabbi drückte der Kellnerin ein paar Münzen in die ausgestreckte Hand. «Sie sind Gäste, Besucher des Landes, und ich ortsansässig.»
In der Universität blühten die beiden auf. Das war mehr nach ihrem Geschmack. Von dem, was sie bisher gesehen hatten, waren sie offensichtlich enttäuscht gewesen. Die Altstadt war malerisch, ohne Frage, und die Menschen pittoresk, in Filmen und auf Ansichtskarten wirkte das interessant, aber von nahem war es schmutzig, zerlumpt und übel riechend. Die Westmauer – nun ja, es war eben eine Mauer. Den erhofften Zauber hatten sie nicht empfunden. Und Zion Square war auch alt und schäbig, sicherlich nicht so wie die Altstadt, aber ebenso gewiss nicht das, was die Dias und Filme versprachen, die man ihnen bei Veranstaltungen mit entsprechenden Spendenaktionen vorgeführt hatte. Die Universität dagegen – neue, moderne Gebäude, weiträumige Plätze, ausgedehnte Gartenanlagen, so hatten sie sich die ganze Stadt, ja, das ganze Land vorgestellt. Jahre hindurch hatten sie israelische Obligationen gekauft und Geld gespendet. Jetzt endlich konnten sie sehen, dass es gut angelegt worden war. Sie wanderten umher, atmeten tief die frische, saubere Luft ein, als sei sie von den neuen Gebäuden erzeugt worden. Vor jeder Bronzeplatte, auf die sie trafen, blieben sie stehen und studierten sie gewissenhaft.
«Eine Schenkung der Familie Isaacson, Montreal … Dank der Großzügigkeit von Arthur Bornstein, Poughkeepsie … Errichtet zum Gedächtnis von Sadie Aptaker … Das Harry-G.-Altshuler-Zimmer …»
«Schau mal, Katz. Montgomery Levy aus Rhodesien. Stell dir vor, aus Rhodesien.»
«Dort gibt’s auch Juden. Hier ist einer aus Dublin, Irland …»
In ihrem Hotelzimmer unterhielten sich die Geschäftspartner über den Tag. «Ehrlich gesagt, Katz, ich war ein bisschen enttäuscht über unseren Rabbi. Ich meine, er ist Rabbi, und da hätte ich doch angenommen, dass er jedes Mal, wenn er zur Klagemauer kommt, ein Gebet sprechen möchte. Und er gibt selber zu, dass er nur ein paar Mal dort war. Das kommt mir nicht richtig vor, lebt
Weitere Kostenlose Bücher