Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
im Nu alle patschnass. Ist es dir aufgefallen, dass es hier auf halber Höhe wärmer ist als im Eingang? Die Wärme steigt nämlich und staut sich auf der Plattform. So bleibt man auch nachts warm, alle ganz dicht in einer Reihe, wie Sardinen in der Dose. Dieses Abenteuer steht dir noch bevor.«
Die Luft war stickig, gelb, Dunstschwaden der Robbenspeck-Lampe und der schwitzenden Menschenkörper durchzogen die muffige Atmosphäre. Stücke gefrorenen Fleischs wurden herumgereicht, jeder bekam dazu ein kleines Messer.
»Alles so machen, wie die es machen«, hatte Harold ihm gesagt. Also nicht fragen, was es war, einfach kleine Stücke abschneiden und in den Mund stopfen, schnell schlucken. Dann das Tuch von seinem Nachbarn mit Dank nehmen, Messer und Mund abwischen, Tuch weiterreichen. Und lachen, immer lachen. Letzteres zumindest schien Wirkung zu zeigen. Das verwitterte Gesicht einer alten Frau strahlte zurück.
»Ist dir aufgefallen, wie oft sie das Wort ›Kavlunak‹ sagen?«, fragte Harold mitten in die erregte Unterhaltung hinein.
»Ich verstehe kein Wort, Harold, nur eine endlose Reihe von K-Geräuschen!« Jack war resigniert und leicht niedergeschlagen.
»Du bist für sie ein Kavlunak. Das heißt, ein ›weißer Mann‹, so was wie ein blutiger Anfänger, der sich mit ihrer Kultur noch nicht auskennt. Übrigens, hat jemand die Medikamentenkiste hereingebracht?«
Er hätte sich keine Sorgen machen brauchen. Die Medikamentenkiste war für diese Menschen wie eine Schatztruhe und wurde immer als Erstes vom Schlitten geholt, mit großer Sorgfalt hinten im Iglu verstaut und dann überwacht.
»Bist du hier der Pfarrer oder der Arzt?«, fragte Jack voller Bewunderung, als sich Aivgak, die Hausherrin, auf den Boden setzte und den Mund weit öffnete, bevor Harold von der Plattform herunterstieg und anfing, mit einer Zahnarztzange in ihrem Mund herumzustochern.
»Wir sind alles. Postbote, Zahnarzt, Doktor und nebenher auch Prediger. Und das Allerwichtigste hätte ich fast vergessen: Klatschtante musst du sein, aber was für eine. Die Leute wollen jedes pikante Detail aus den anderen Siedlungen wissen. Wer wen wo geheiratet hat, ein Kind bekommen, wer gestorben ist und so weiter. So, jetzt bis drei zählen, und … Taschentuch bitte, Jack. Schau genau hin, wie ich es mache, sie werden es auch von dir erwarten.« Ein Reißen, ein leichtes Stöhnen und der problematische Zahn war draußen. Harold redete unentwegt weiter, während er das Blut abwischte und Desinfektionsmittel auf das frische Loch in Aivgaks Mund tupfte. Offensichtlich war so ein Eingriff für den hartgesottenen Prediger Routine.
»Die Frauen haben es besonders schwer mit ihren Zähnen, Jack. Wenn du genau hinschaust, aber bitte nicht zu genau, weil das unhöflich ist, wird dir auffallen, dass die Zähne der älteren Frauen nur kleine, abgenutzte Stümpfe sind, falls sie überhaupt noch Zähne haben. Das ist die Folge jahrzehntelangen Bearbeitens von Tierhäuten. Die Häute werden nicht wie bei uns gegerbt, sondern getrocknet. Danach werden sie geschliffen, damit sie weich werden. Und weil die Ränder fürs Nähen besonders weich sein müssen, werden diese von den Frauen gekaut. Handarbeit beziehungsweise Zahnarbeit vom Feinsten. Und das wird regelmäßig wiederholt – wenn wir hier übernachten würden, wären unsere Stiefel bis zur Abfahrt weich und gemütlich, als wenn sie neu wären.«
Aus Tierhäuten gemachte Stiefel wurden nach kurzer Zeit steif von Abnützung, Schweiß und Feuchtigkeit, vor allem nach einer langen Reise. Die Frau des Hauses hatte unter vielen anderen Dingen die Aufgabe, die gesamte Fußbekleidung der Familie, und auch die der Gäste, regelmäßig durchzukauen.
»Die Baffin-Eskimos haben früher Harnsäure verwendet, um ihre Stiefel weich zu halten«, klärte Harold auf, »ihre Iglus stanken noch mehr wie dieses hier nach Ammoniak …«
Nachdem Harold mehreren Patienten einen Zahn gezogen hatte, folgte eine lange, ungehemmte und herzliche Austauschrunde und schließlich eine Andacht, bei der es im Schneehaus plötzlich still wurde. Die alte Frau starrte Jack wieder an und strahlte, als er sie anlächelte. Ihr Blick wich nicht mehr von seinem Gesicht, während Harold predigte. Offensichtlich hatte er schon eine Freundin gewonnen.
Zum Abschluss folgten Gebete, bei denen Jack nur ahnen konnte, worum sie sich drehten. Ein gemeinsames Gebet war wohl das Vaterunser. Noch mehr Tee, mit gefrorenen Klumpen von irgendetwas. Jack
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