Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
Wort, und der Zauber war gebrochen. Das Rauschen der Schlittenkufen auf dem Schnee schien zu diesem Märchen dazuzugehören.
Die zwei Männer saßen wieder vorne auf dem Schlitten. Aber jetzt schweigsam. Fremd und wie aus einer anderen Welt vernahm man nur das gelegentliche Bellen eines der elf Hunde, die den Schlitten zogen, oder Harolds Rufe, die dem Leithund unmissverständliche Anweisungen gaben.
»Wie spät haben wir eigentlich?«
Jack hatte seine Stimme zu einem leisen Flüstern gedämpft.
»Mitternacht«, flüsterte Harold durch die vereisten Ränder seiner Kapuze zurück, »aber das macht nichts, sie werden schon von anderen Reisenden erfahren haben, dass wir unterwegs sind. Wahrscheinlich sind wir das größte Ereignis, das sie seit Langem hatten.«
Jack war hellwach. Sein Körper hatte noch keinen Ersatz für den Tagesrhythmus gefunden, den es in dieser Welt einfach nicht gab. Es fühlte sich nicht wie Mitternacht an. Die schneebedeckte Ebene spiegelte das gedämpfte Licht der Himmelskörper wider und verstärkte es dadurch. Wie eine gespenstige Dämmerung. Irgendwas zwischen Tag und Nacht, oder vielmehr irgendwas ganz anderes, aus einer Welt, in der es Tag und Nacht nicht gab.
»Horch, Jack! Einer ihrer Hunde hat uns schon gewittert, obwohl wir noch weit weg sind. Sie haben einen übernatürlichen Geruchssinn.«
Tatsächlich. Ein schläfriger Husky in der Iglusiedlung hatte die Witterung aufgenommen. Er sprang hoch, bellte und zog an seiner Kette. Bald waren es mehrere Hunde. Alle bellten in die Richtung, aus der die Besucher kamen.
Spätestens jetzt war der Zauber gebrochen. Harolds Hunde sprangen mit neuem Elan nach vorne, frisch angespornt durch die Aussicht auf Gesellschaft und neue Gerüche, Klänge und vor allem Futter.
Als der Schlitten endlich ankam, stolperten Kinder aus jedem Schneehaus. Sie lachten und hüpften vor Aufregung hoch und runter. Die Siedlung wimmelte schon von Lärm und Leben. Mahnende Elternstimmen riefen Kindern Anweisungen zu.
»Holt das Robbenfleisch! Die Hunde werden Hunger haben!«
Jack blickte fasziniert um sich. Es war nicht seine erste Begegnung mit Eskimos. Die einheimischen Bewohner Coppermines kannte er nach einem halben Jahr Aufenthalt dort schon gut. Er war es schon gewohnt, sich bücken zu müssen, um ihnen die Hand zu geben. Jack war auch für westliche Verhältnisse ein hochgewachsener Mann. Warum aber kamen ihm diese Leute besonders klein vor? Weil ihre Häuser so niedrig waren? Oder waren sie durch ihre dicken Felle breiter und wirkten deswegen kleinwüchsiger?
Während Harold von den Bewohnern, die aus den Schneehäusern herausgerannt kamen, überschwänglich willkommen geheißen wurde, musste Jack sich damit zufriedengeben, mit mehr Abstand neugierig, aber nicht unfreundlich beäugt zu werden.
Bald wurden die beiden Besucher zu dem Zwei-Zimmer-Schneehaus eines alten Ehepaares geführt, das Aivgak und Uliguna hieß. Zwei gewölbte Schneeräume fanden sie vor, durch einen gemeinsamen Eingang verbunden. Das alte Ehepaar wohnte mit seinem 40-jährigen Sohn in einem der Räume, die Tochter mit Ehemann und zwei Kindern in dem anderen.
»Von Privatsphäre kann hier keine Rede sein«, flüsterte Jack, als die zwei Männer sich bückten, um durch den niedrigen Schneeeingang zu kommen.
»Tja, Geburten, Intimitäten, Tod, An- und Ausziehen, Toilettengänge: Für alles hast du ein Publikum«, schmunzelte Harold. »Und noch eine Sache, Jack. Der Geruch ist am Anfang gewöhnungsbedürftig. Robbenspeck in den Lampen, das Schwitzen in den dicken Mänteln, kein Bad seit einem Jahr, hausinternes Klo, keine Lüftung. Eine kräftige Mischung. Aber wir tragen ja auch dazu bei.«
An Herzlichkeit und Gastfreundschaft fehlte es diesen Menschen nicht. Die Ankunft von Gästen bedeutete Neuigkeiten, Vorräte, eine willkommene Abwechslung von der Mühe des Alltags. Jedes Mal, wenn Jack dachte, dass wirklich kein Mensch mehr in diese vollgepackte Hütte hineinpasste, quetschte sich noch einer dazu. Wie aus dem Nichts erschienen Keramikbecher mit Tee, alle saßen zusammengerückt auf der Eisplattform, die die Hälfte des Innenraums füllte, auf Decken aus Karibufell.
»Rück noch ein bisschen, Jack, noch zwei Männer müssen hier drauf. Wir sitzen übrigens mitten in ihrem Schlafzimmer«, erklärte Harold.
»Liegen die Felle direkt auf dem Schnee?«, fragte Jack verwundert.
»Nein, ein Geflecht von Weidengeäst liegt dazwischen. Sonst wären wir bei unserer Körperwärme
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