Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
fragte Jack, als er den Schlitten nochmals mit einem prüfenden Blick kontrollierte.
»Hilfe, das Allerwichtigste hätte ich fast vergessen. Sam, wie konntest du das übersehen?!«
Er rannte zurück ins Missionshaus und kehrte mit einer kleinen Kiste in der Hand zurück. Es war sein Schachspiel. Sam lachte laut.
Im gleichen wasserdichten Sack wie das Zelt waren auch Schlafsäcke, Gewehre, Kleidung zum Wechseln und ein Schneemesser verstaut. Als Letztes kamen der Kerosinbrenner und Dosen mit Brennstoff. Persönliche Hygiene wurde auf Sparflamme gehalten. Für eine Zahnbürste, Zahnpasta und ein Stück Seife gab es gerade noch Platz. Die Seife kam nur selten zum Einsatz.
»Man muss sich darauf einstellen, wochenlang keine Dusche zu sehen«, schrieb er einmal etwas zaghaft an seine Verlobte. »Wir schwitzen hier in unseren Schichten von Karibu fröhlich vor uns hin, werden ständig freundlich von Hunden abgeleckt, die Robbenspeck und Blut von rohem Fleisch überall im Gesicht haben. Mit der Sauberkeit ist es nicht weit her. Aber keine Sorge, wenn wir alle zusammen duften, dann merkt es irgendwann keiner mehr. So wie bei gemeinsamem Knoblauchgenuss. Das Leben hier wäre übrigens nichts für Vegetarier.«
»Eines Tages im Sommer gingen all die Männer in verschiedene Richtungen, um nach Karibuspuren zu suchen.« Die gespannten Zuhörer, dicht gedrängt im Iglu, hingen an jedem Wort, das Jack sagte. Spannend und mit leuchtenden Augen erzählte er. Die Zuhörer blickten zu Sam Allonak hinüber und warteten auf die Übersetzung. Die zwei Männer waren in einer kleinen Iglusiedlung in Kuuk angekommen.
»Weil der Boden felsig war, nutzten sich die Hautsohlen ihrer Stiefel bald ab und die Frauen mussten jeden Abend neue Flicken daraufnähen. Während die meisten Männer gelegentliche Erfolge in ihrer Suche nach den Tieren meldeten, gab es einen Mann, der kein einziges Karibu zu Gesicht bekam, obwohl seine Stiefel jeden Abend völlig abgenutzt waren.«
Die vier Familien aus der Iglusiedlung, die sich im größten Schneehaus versammelt hatten, warfen einander wissende Blicke zu. Einige kicherten.
Egal woher sie kamen, »Storytellers« genossen bei den Eskimos hohes Ansehen. Mit einer Geschichte konnte man auch den schüchternsten Eskimo aus der Reserve locken. Als guter einheimischer Geschichtenerzähler konnte man durch eine mitreißende Erzählung sogar einen gescheiterten Jagdausflug wieder wettmachen.
»Bald hatte dieser Mann den Ruf, kein erfolgreicher Jäger zu sein, und natürlich wollte ihn keine Frau heiraten.« Lautes Gelächter.
»Kein Wunder, Minihitak! Wer heiratet schon einen Mann, der keine Karibus nach Hause bringt?«
»Aber Moment mal, Freunde.« Jack grinste. »Jetzt kommt der spannende Teil. Er hatte nämlich Glück. Endlich hat sich eine Frau erbarmt und zog zu ihm in sein Zelt. Er fand aber immer noch keine Karibus. Seine Stiefel waren trotzdem jeden Tag abgenutzt und mussten geflickt werden. Bald wurde seine Frau misstrauisch. Eines Tages folgte sie ihm heimlich, um zu schauen, was er tagsüber so trieb.«
Jacks Stimme wurde geheimnisvoll und leise. Der Dolmetscher spielte mit. Die Zuhörer blickten von Jack zu Sam, wieder zu Jack und folgten gebannt jedem Wort.
»Siehe da, weit weg vom Camp sah sie, wie ihr Mann in ein kleines Tal hinunterstieg, in dem ein spitzer Fels aus dem Boden ragte. Und …«, Jack redete mit gespielter Empörung immer lauter, »… ich trau mich kaum, es euch zu erzählen, liebe Freunde, so peinlich ist die Geschichte. Da lag ihr Mann auf seinem Rücken auf dem moosigen Boden und rieb seine Stiefel an dem kantigen Felsen rauf und runter, bis sie so aussahen, als ob sie von einer langen Suche nach Karibus abgetragen wären!«
Jack war inzwischen von der Geschichte selbst so mitgerissen, dass er anfing, laut zu lachen. Sam brach in einem Lachkrampf zusammen, das ganze Publikum wurde angesteckt und die ausgelassene Stimmung schien kein Ende zu finden.
»Und was hat die Frau dann getan?«, fragte ein Jugendlicher.
»Das weißt du genauso gut wie ich, das wisst ihr doch alle!«, rief Jack in die lachende Menge hinein.
»Sie verließ ihn und der faule Jäger war wieder alleine!«, riefen ein paar ältere Familienmitglieder.
»Und dabei hoffe ich jedes Mal, dass diese Geschichte einmal gut ausgeht«, sagte der Minihitak und rieb ein paar Lachtränen aus seinen Augen.
Zur Feier der Stunde wurde Tee herumgereicht. Erst dann packte Jack seine Bibel aus. Der
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