Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
zerrten ihn von der Wand weg. »Pass auf, Mr Sperry!« Jack blickte sich verwundert um und sah die gefährliche Spitze eines Schneemessers gerade dort aus der Wand ragen, wo eben noch sein Ohr gewesen war.
»Ein Mordversuch oder etwas ähnlich Dramatisches hätte seiner Exzellenz wahrhaftig guten Stoff für den Film geliefert«, schrieb er an Roy. »Aber leider war es nur ein unbeholfener Kameramann, der für mehr Licht im Innern des Iglus sorgen wollte. Er hatte zugeschaut, wie die Iglubauer diese Schneemesser souverän bedienten und dachte, er könne es auch probieren und noch ein kleines Fenster einbauen. Er wusste nicht, dass mein Kopf gerade auf der anderen Seite war.«
Dankbar, dass er das traute Leben zu zweit mit intaktem Kopf und nagelneuen Zähnen antreten konnte, feierte Jack am Abend mit seiner Braut und seinen neuen Freunden das Fest seines Lebens. Ganz Coppermine und viele Besucher aus den näher liegenden Außensiedlungen hatten sich fein herausgeputzt. Die Mitarbeiter der Hudson Bay Company stellten als Überraschung eine Radioverbindung nach Süden her, durch die die klassische Hochzeitsfanfare »Here comes the bride« gerade noch als Musik erkennbar in wackeligen, bleiernen Tönen, exakt zum richtigen Zeitpunkt durch die voll besetzte Kirche hallte, als Jack seine Braut stolz zum Altar führte. Das Ehegelübde wurde auf Englisch ausgeführt, »damit meine Frau ja begreift, was sie mir versprochen hat und vor allem, was ich ihr versprochen habe«, kommentierte Jack später. Die Hymnen wurden in der Inuinaktun-Sprache gesungen. Das opulente Festmahl bestand aus Reis, runden Kuchen und Rosinen, mit endlosen Litern Tee.
»Es war eine Atmosphäre der ausgelassenen Freude«, schrieb Jack weiter, »einen besseren Anfang für Betty hätte ich mir nicht vorstellen können. Meine Freunde hier haben sie sofort in ihr Herz geschlossen. Ich bin überaus glücklich.«
Nach zwei Jahren Vorbereitungszeit und mit einer Ehefrau an seiner Seite war Jack nun in der Lage, die volle Verantwortung für die Coppermine-Pfarrgemeinde und ihre zahlreichen Außenposten zu übernehmen. Die Familie Webster feierte die Hochzeit mit und flog danach mit dem Bischof gen Süden, um sich auf die neue Station ihres Lebens vorzubereiten, im Wissen, dass ihr Vermächtnis in Coppermine in guten Händen lag. Jack und Betty konnten das kleine Missionshaus als neu gegründete Kleinfamilie beziehen und ihr Eigenheim nennen.
Wehleidige Kulturschocks und Tränenausbrüche gehörten nicht zu Bettys Repertoire von Verhaltensweisen. Gefühle der Aufregung behielt sie für sich, gab diese zumindest nicht preis. Mit ruhiger Entschlossenheit fing sie an, ihre Aufgabe als »First Lady on the Base« zu gestalten, damit ihr Mann für seine Reisen in die Wildnis den Rücken frei hatte. Die begeisterte Köchin fing mit Eifer und nicht immer ganz ohne einen leichten Ekel im Magen an, neue Kochkünste zu lernen. Manche Teile der Tieranatomie, die in Europa der Katze in die Schale gelegt wurden, galten im Eskimoland als Delikatessen. Karibuhirn als Mousse, Suppe aus mit der Hand pürierter Robbenleber, Ragout aus Karibuzungen, Robbenherzauflauf. Eine besondere Vorliebe für Karibuleber ließ bei Betty nicht lange auf sich warten. Nach jeder erfolgreichen Jagd wussten ihre Coppermine-Freunde bald, womit sie der Frau des Minihitaks eine Freude machen konnten. Die Tierleber wurde sofort ins Missionshaus geliefert.
Einfacher für Betty als die Gewöhnung an das Arktismenü war das Kennenlernen der Menschen. Dies war keine Kultur, in die man sich mit Samthandschuhen und zwischenkultureller Geschicklichkeit hineinfühlen musste. Jack hatte ihr den Weg vorbereitet. Eine aufgesetzte, herablassende Sympathie hätten die zähen Bürger der Eisfelder schnell durchschaut und ohne viel Aufhebens von sich gewiesen.
Stattdessen hatte Jack mit ihnen Tee getrunken und gebetet, Beute mit ihnen zerlegt, Probleme und Lasten ernst genommen, Freuden und Tränen mit ihnen geteilt. Diese Menschen, die unter den einfachsten Lebensbedingungen eine tiefe Fähigkeit für Empathie und Freundschaft entwickelt hatten, waren mehr als bereit, die Frau, die er liebte, auch in ihr Herz zu schließen.
Routineaufgaben einer gewöhnlichen Pfarrersfrau ließen nicht lange auf sich warten. Auch in Coppermine sehnten Kranke immer einen Besuch herbei. Kinder stürzten sich auf jeden, der ihnen Zuwendung und Zeit schenkte.
Es war ein Senkrechtstart in ein arbeitsreiches Eheleben. Schon kurz
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