Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
späteren Leben in Coppermine zugutekommen würde: stundenlang alleine in der Dunkelheit zu sitzen und dafür zu sorgen, dass das Feuer nicht ausging. Beim Nachtdienst war sie auf sich allein gestellt und durfte nur in Notfällen nach zusätzlicher Hilfe rufen.
Sie konnte nur hoffen, dass die Patienten gut schlafen würden, denn den Holzofen ständig mit ein Meter langen Holzscheiten zu füttern, war keine Beschäftigungstherapie für Nachtschwestern, sondern überlebenswichtig.
»Als Hauptbeschäftigung die Aufgabe, dass das Feuer nicht ausgeht: Damit hast du schon den Kern dieser Kultur erkannt«, schrieb Jack scherzhaft. »Früher waren die Gesichter der Frauen deswegen oft so schmutzig. Sie beugten sich stundenlang über ihre Lampen, um ein Feuer zu erzeugen und danach am Leben zu halten. Bemerkenswert, wie sich bestimmte Rollen und Aufgabenverteilungen aus den Lebensumständen entwickeln. Ob ihre Vorfahren dieses Wissen schon im Gepäck hatten, als sie sich in die Gefahren des Nordens aufmachten? Wie viele Opfer muss es wohl gegeben haben, bis sich solche Routinen entwickelt haben?«
Die optimistischen Briefe aus Aklavik, die wachsende Gewissheit, dass die Ehe mit Betty MacLaren nicht nur großes Glück in sein persönliches Leben bringen, sondern auch eine unermessliche Bereicherung für seinen Dienst in der Mission sein würde: Diese Gedanken beflügelten Jack, während er sich nach und nach mühsam in jeden Bereich seines neuen Lebens hineinarbeitete. Jenseits jeder körperlichen Nähe, üppiger Hochzeitspläne oder Zukunftsträume für das Glück zu zweit war zwischen ihnen eine Verbundenheit gewachsen, die sich auf eine tiefe gemeinsame Leidenschaft für ein vergessenes Volk abseits der Zivilisation gründete. Die Hochzeit wurde für den Sommer 1952 geplant.
Danach sollte sich die Familie Webster zu ihrer neuen Heimat aufmachen und Jack und Betty würden alleinige Verantwortliche der St.-Andrew's-Mission, 16 Hunde inklusive, sein.
Aber es kam alles anders.
»Ich habe erfahren, dass Sie demnächst heiraten«, sagte der Leiter des Hudson-Bay-Außenpostens Hunderte von Kilometern nördlich von Coppermine. Hier legten Jack und Sam einen Zwischenstopp mitten in einer Reise ein und entspannten sich bei einem Becher Tee im ungewöhnlichen Luxus einer Holzhütte. Es war Mitte März.
»Ich heirate im Sommer. Nach Ankunft des Schiffs.«
»Sind Sie sich da ganz sicher, Mr Sperry? Denn nach meiner Information kommt Ihre Braut schon viel früher, um genau zu sagen, demnächst, mit dem gleichen Flug wie der Bischof. Und Ihre Hochzeit soll gleich danach stattfinden. Torte und Kleid hat sie auch dabei.«
Sam verschluckte sich bei dem Versuch, nicht laut zu lachen.
»Wie bitte?«, brachte Jack gerade noch heraus. Er stellte seine Teetasse auf den Tisch und wurde bleich. Nicht etwa, weil die Aussicht auf familiäres Glück ihm nun doch kalte Füße bereitete, sondern weil ihn das alte Problem mit seinen falschen Zähnen gerade in diesen Wochen eingeholt hatte. Als er einige Tage zuvor Seemannszwieback gekaut hatte, waren die berüchtigten Vorderzähne kaputtgegangen. Ein Ersatz war nicht in Sicht.
»Ich kann doch nicht …«
»Was, überlegen Sie es sich etwa anders?«, grinste der Hudson-Bay-Beamte.
»Nein, niemals! Aber schauen Sie meine Zahnlücke an. So kann ich doch nicht heiraten!«
»Haben Sie immer so ein Talent für Blamagen, Mr Sperry?«
»Nicht immer, aber immer wenn es darauf ankommt. Was soll ich bloß machen?«
Der Beamte war nicht nur zu Scherzen aufgelegt, er zeigte echtes Mitgefühl und bot seine Hilfe an. »Wenn wir Glück haben, kommen Ihre Zähne wieder rechtzeitig zur Hochzeit in Coppermine an«, sagte er.
Die beschädigten Zähne wurden sorgfältig zusammengepackt und zur Reparatur nach Süden geschickt. Jack hoffte inbrünstig, dass er nicht mit einer riesigen Zahnlücke auf seinen Hochzeitsbildern verewigt werden würde.
»Hoffentlich erkennt sie mich wieder«, dachte Jack, während er auf dem Weg zurück nach Coppermine an der Reihe war, den Schlitten zu lenken und aus voller Kehle »Iglugaluit!« zu brüllen. Schon in der Nacht zuvor hatte er unruhig geschlafen. Innerlich hatte er schon verschiedene Drehbücher für die erste Begegnung geschrieben. Sollte er ihr gleich viel erzählen und sie in alles Wichtige einweisen? Oder sollte er ihr Zeit lassen, ihr lieber zuhören, sie nach ihrem Befinden fragen? Oder wäre das wiederum zu aufdringlich?
Mit Freude dachte er daran, dass
Weitere Kostenlose Bücher