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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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Kinder nach Hause bringt, liebe ich ihn!«
    Es gab im Eskimoland tatsächlich nur ein Kriterium für jede Entscheidung: überleben oder nicht überleben.
    Außer den wenigen Ehepaaren in der Siedlung, die aus dem Süden gekommen waren, waren Jack und Betty das einzige Paar, das nicht schon als Kinder füreinander bestimmt wurde.
    Betty hatte es inzwischen begriffen: »Gut erzogen« für einen Jungen bedeutete hier »gut jagen können«, für ein Mädchen »Karibuhaut behandeln und nähen können«.
    Betty war eine Sensation in diesem Dorf, dessen Alltag ansonsten nur aus Arbeit, dem Tausch von Tierfellen und einem harten Kampf gegen permanent bedrohendes Unwetter bestand. Und das mitgebrachte Hochzeitskleid war eine Sehenswürdigkeit ohnegleichen.
    »Warum lachen sie über das Kleid? Und über die Torte?«, fragte sie Jack.
    »Sie finden es lustig, dass Weiß für uns eine festliche Farbe ist«, lachte Jack, »wo doch alles um uns herum so unendlich weiß ist, dass es einen schier verrückt macht! Sei froh, dass sie deine Haare nicht anfassen. Ich wurde heute schon gefragt, mit welchem starken Zaubermittel die Europäer aus glatten schwarzen Haaren blonde Locken machen. Sie konnten mir nur schwer glauben, dass deine Haare tatsächlich von selbst aus deinem Kopf herausgewachsen sind!«
    Die Hochzeit sollte am 24. April 1952 abends stattfinden. Abends, weil es an diesem Tag Arbeit geben würde. Es lag nämlich nicht nur an der Hochzeit, dass der Bischof mit von der Partie war. Er hatte auch geplant, im Auftrag der weltweiten anglikanischen Kirche einen Film über die Arbeit der Diözese am Polarkreis zu drehen. Die neue Technik der bewegten Bilder, die auch normalen Bürgern inzwischen zur Verfügung stand, war in den Fünfzigerjahren im Begriff, die Medienlandschaft zu verwandeln. Der verheißungsvolle Titel des Films lautete: »Die innere Kraft«, und ein voll ausgestattetes Kamerateam war mit dem Bischof eingeflogen worden, um aussagekräftige Momente im Leben des John Sperry zu dokumentieren. Jacks Aufgabe kurz vor seiner Hochzeit: die Gefahren und Bedrohungen der Arbeit unter den Eskimos für weltweite Sponsoren vor laufender Kamera überzeugend in Szene zu setzen.
    »Aber es ist jetzt Frühling, die ungünstigste Jahreszeit für eine Reise«, hatte er protestiert, als er von diesem Vorhaben erfuhr.
    »Macht nichts, dann müssen Sie einfach ein bisschen schauspielern«, antwortete der Bischof. »Das Drehbuch schreibt eine Szene vor, in der Sie mit einem einheimischen Begleiter auf dem Schlitten unterwegs sind, und einen Gottesdienst in einem Iglu mit ein paar verkleideten oder echten Ureinwohnern abhalten. Danach machen wir ein Interview und drehen Bilder aus der Umgebung und von der Landschaft. Dann dürfen Sie heiraten.«
    Eis und Schnee gab es trotz des Frühlingseinbruchs noch zur Genüge. Jack und Sam packten sich schwitzend in ihre dicksten Karibuparkas, die normalerweise nur im Winter herausgeholt wurden, spannten die Hundestaffel an, beluden einen Schlitten und machten eine überzeugende Fahrt über den Fluss und zurück, gefolgt von drei Kameramännern auf einem zweiten Schlitten.
    »Mr Sperry, ich dachte, ich kenne euch Weiße und eure Gewohnheiten. Aber heute finde ich euch wirklich seltsam.«
    Jack lachte, als Sam verwirrt auf die Filmapparate starrte.
    »Sam, du kennst doch meine Fotokamera. Das, was die Kamera sieht, erscheint später auf Papier.«
    Wie genau das ging, begriff Sam noch nicht. Aber das Grundprinzip des Fotografierens kannte er.
    »Nun, was diese Männer machen, ist etwas Ähnliches, nur die Bilder bewegen sich auf dem Papier.« Sam sah nicht allzu erleuchtet aus, und bald gab Jack seine Erklärungen auf.
    Erst Jahre später, als Coppermine sein erstes kleines Kino einweihte, begriff Sam, was hier wirklich vor sich gegangen war.
    Inzwischen war mit etwas Mühe ein Schneehaus aus viel zu matschigem Schnee errichtet worden, hier sollte nachmittags ein Gottesdienst inszeniert werden.
    »Film ab!«, kam der Ruf von außen. Jack saß auf der Schlafplattform im Kreis einer gutmütigen Eskimofamilie aus dem Dorf, die eingewilligt hatte, beim Film mitzumachen. Alle hatten brav ihre Gesangbücher aufgeschlagen und setzten ihre frömmsten Mienen auf. Jack saß direkt an der Außenwand. Kaum hatte er mit dem ersten Satz der inszenierten Predigt angesetzt, schrie die brav vor sich hin betende Eskimofamilie erschrocken auf. Gesangbücher flogen durch die Luft, alle stürzten sich auf Jack und

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