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Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis

Titel: Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicola Vollkommer
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blonden Haare und blauen Augen zu bewundern.«
    Bald bastelte Jack einen kleinen Schlitten für seine Tochter, auf die Größe ihrer Tragetasche maßgeschneidert.
    »Sie gewöhnt sich schon an Temperaturen zwischen minus 20 und minus 30 Grad«, erzählte Betty ihrer Mutter. »Und wenn alles windstill ist, ist es angenehm draußen, weil die Kälte so trocken ist. Als ich neulich zuschaute, wie die Eskimokinder auf dem frisch gefrorenen Fluss spielten, war ich überzeugt, dass Angela hier eine sehr glückliche Kindheit verbringen wird.«
    Drei Jahre später, im Sommer 1959, gesellte sich ein kleiner Bruder, John, dazu. Er war die perfekte Ergänzung zu seiner zierlichen Schwester und der lebende Beweis für die örtliche Bevölkerung, dass die Europäer auch in der Lage waren, dunkle Babys zu zeugen. Pausbäckig, mollig, ein Schopf schwarzer Haare, seine Grübchen und sein verspieltes Gekicher verrieten eine frühzeitige Tendenz, in den neckischen Fußstapfen seines Vaters und Großvaters zu laufen.
    In der Gegenwart der Kinder unternahm Betty eine zweite Entdeckungsreise in die geheimnisvolle Welt der ewigen Arktis-Schneedünen hinein. Sie erforschten gemeinsam alles, als ob sie noch nie in dieser kargen Eiswüste gewesen wären. An eiskalten Winterabenden mummelten sie sich zu dritt in warme Karibupelze und erzählten und lauschten Geschichten neben dem Ofen. Dad blieb unumstritten der beste Geschichtenerzähler der Welt, aber Mom war auch kein schlechter Ersatz, wenn Dad unterwegs war.
    Tagsüber bestaunten sie gemeinsam die Muster einer Schneeflocke, streichelten mit Vorsicht und mit großen Augen die glitzernden Kränze und Girlanden aus klarem Zucker, die die Eisveranda vor dem Haus schmückten, zierlich wie feine Spitzen. Sie lachten zusammen, als sie ihre seltsam verstellten Gesichter in den leuchtenden Eissäulen widergespiegelt sahen, die draußen an der Haustür vom Dach hingen und fast bis zum Boden reichten. An Gesellschaft fehlte es den Kindern nicht. Das Haus war schon lange vor ihrer Geburt ein Tummelplatz für alle möglichen kleinen und großen Karibustiefel, von denen nicht immer vorm Eintreten in die Wohnstube jeder Brocken Schnee weggestampft wurde. Betty hatte sich längst an den permanenten Matsch im Eingangsbereich gewöhnt.
    Angela und John wuchsen wie kleine Eskimos auf. Der kindliche Alltag spielte sich größtenteils draußen ab. Im Winter gruben sie eine Schneehöhle und bauten ihr eigenes Spieliglu. Auf einem kindgerechten Schlitten von drei der familieneigenen Hunde gezogen, übten sie den Ernst des Lebens und rasten durch den Schnee. Angelas beste Freundin Helen konnte schon mit sieben Jahren ein Hundegespann anführen. Im Sommer streiften sie durch die Landschaft und entdeckten Vögel, Beeren und Sträucher. Ihre Spielsachen waren Stöcke und Zweige, ihre Spielplätze Felsen und Flussufer. Sie richteten Zelte auf und ärgerten sich über die allgegenwärtigen Mücken. Angela trug ihre Puppen auf ihrem Rücken, wie die Eskimo-Mamas es machten.
    Nichts löste bei den Kindern größere Freude aus als der Wechsel der Jahreszeiten. Im Sommer, in dem die Nacht zum Tag wurde, spielten die Kinder, bis sie vor Müdigkeit fast umfielen. Bettzeiten gab es nicht. Im Winter staunten sie über das Knirschen ihrer Stiefel auf frischem Schnee in einer sonst lautlosen Welt, wenn sie um 9.00 Uhr morgens beim Licht des Mondes wie durch eine Zauberlandschaft in die kleine Grundschule gingen und um 14.00 Uhr nachmittags beim Licht des Mondes wieder nach Hause kamen. Sie schauten gebannt zu, wie sich der Fluss in eine harte Platte verwandelte und riesige Wasserflächen von jetzt auf nachher zu Festland wurden.
    Das war die Zeit, in der weiße Frauen, die diese extremen Wetterverhältnisse nicht gewöhnt waren, in eine Dauerdepression fielen. Als Betty immer wieder gefragt wurde: »Wie bleibst du bloß so fröhlich, wenn wir monatelang tristen Alltagstrott wie in einem dunklen Gefängnis absitzen müssen?«, war ihre Antwort immer dieselbe: »Ich habe zwei süße Kinder als Gesellschaft an einsamen Tagen, ich bin hier im Auftrag meines geliebten Herrn, der sein Leben für mich gab und dem ich mich für mein ganzes Leben verpflichtet habe. Wie kann man da traurig sein?«

    »Mom, der Eiszapfen sieht aus wie Dad, der Eiszapfen sieht aus wie Dad!«
    Betty lachte laut.
    »Johnny, spiel dein Eiszapfenspiel draußen, und bitte, nicht den ganzen Schnee hier reinschleppen. Tür schnell wieder zu. Du bist jetzt zum

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