Am Rande der gefrorenen Welt - Die Geschichte von John Sperry Bischof der Arktis
dritten Mal hereingestürmt und jedes Mal gibt es einen scharfen Windstoß und neuen Schneematsch.«
»Es ist kein Spiel, Mom, es ist echt! Schau mal!«
Der kleine John hüpfte vor dem Küchenfenster rauf und runter, aus dem man einen weiten Blick auf den nahe gelegenen Fluss hatte.
»John, das ist kein Eiszapfen, das ist Dad. Schnell, Wasser in den Topf, Tür aufmachen, Dad reinholen.«
Sekunden davor war Jack dabei gewesen, Eisblöcke aus dem gefrorenen Fluss zu sägen, eine Routinearbeit, die den Winteranfang markierte. Dieses Eis ergab nämlich frisches Trinkwasser für einen langen Winter, in dem die gesamte Landschaft, einschließlich des fließenden Wassers, monatelang zu einem Eispanzer gefroren war.
Ab und zu, so auch an diesem Tag, entstanden in dieser betonartigen Masse Risse, die sich, von oben unsichtbar und von Schnee bedeckt, als heimtückische Fallen entpuppen konnten. Plötzlich zerteilte ein krachender Lärm die frostige Luft. Die Schwachstelle gab unter Jacks Gewicht nach und riss ihn in die tiefe, kräftig wirbelnde eisige Brühe, die unter der Eisdecke floss.
Die eisige Kälte nahm Jack den Atem, versetzte ihn in einen Schock und sein Körper war durch die intensive Kälte nach einer Sekunde schon dabei, zu erstarren.
»Nur ruhig bleiben, ja nicht den Kopf verlieren!«
Für solch einen Augenblick hatte er nie geprobt. Wie übt man Situationen, in denen jede Faser des Körpers auf Panik umstellt und eine einzige falsche Bewegung den sofortigen Tod bedeuten kann? Jede Zelle seines Wesens schrie danach, zu kämpfen, zu strampeln, so schnell wie möglich rauszukommen.
»Aber genau das darfst du nicht tun«, befahl er seinem Körper. »Tu das, und du stirbst.«
Der Schmerz der Kälte schnitt ihn wie ein Messer. Nach Hilfe zu schreien war überflüssig. Kein anderer Mensch befand sich in Sichtweite. In Sekundenschnelle versuchte er, irgendwelche Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. Zu rudern oder strampeln war keine Option, denn der Rand des Eislochs war zu glatt. Er presste seine nassen Handschuhe auf das Eis und hielt sie dort, bis sie eingefroren waren, während er seine Beine fest gegen den reißenden Strom stemmte, der drohte, seinen Körper unter dem Eis wegzureißen. Nach wenigen Sekunden hatte er genug Halt, um sich selbst aus dem Wasser zu hieven. Gerade noch rechtzeitig.
Bis er die paar Meter zurück zum Missionshaus gestolpert war, waren seine Kleider steif wie Karton und mit Eiszapfen geschmückt. Seine Zähne klapperten so heftig, dass er Betty gar nicht erzählen konnte, was geschehen war.
Seine Frau war kurz sprachlos, als die vereiste Erscheinung in die Küche wankte. Jack taute jedoch in der Wärme auf, zog trockene Kleidung an, erzählte kurz von seinem Abenteuer und stapfte zurück zum Fluss, während seine Frau ihn mit einem ängstlichen Blick aus dem Küchenfenster verfolgte. »Operation Eis« war längst nicht zu Ende. Es mussten noch viele Blöcke geschnitten werden.
Jede Familie in der Siedlung brauchte etwa 200 Eisblöcke, um genügend Trinkwasser für den Winter zu haben. Ein Block enthielt Wasser für einen Tag und passte genau in ein 170-Liter-Fass in der Küche, wo er zu Koch- und Trinkwasser schmolz.
Die Blöcke konnten geschnitten werden, wenn die Oberfläche des Flusses etwa 30 Zentimeter tief gefroren war. Es gab zu diesem Zweck eigenes Werkzeug. Zuerst wurde mit einem Eismeißel ein Loch in die Oberfläche gebohrt, danach wurde das Eis mit einer langen Eissäge aufgeschnitten. Die abgemessenen Vierecke befreite man schließlich mit einer Eisgabel und zog sie mit Eiszangen heraus. Jeder Block wog etwa 16 Kilo.
Das viereckige Loch, das man nach dem Ausschneiden der Blöcke hinterließ, wurde mit einem Seil abgesichert und mit einer Laterne beleuchtet, um zu verhindern, dass andere Eisarbeiter ein unverhofftes Eisbad nahmen. Sobald die neue Öffnung wieder etwa acht Zentimeter tief gefroren war, ging der Prozess von vorne los. Aus dieser dünneren Eisschicht schnitt Jack Stücke, die so groß waren wie die Platten eines Gehwegs. Dieses Eis war leichter, klarer und einfacher zu bewegen. Auch diese Blöcke wurden zum Missionshaus geschleppt; mit ihnen baute Jack Windfänge aus Eis für das Haus und die Kirche. Solche »Ice Porches« boten Schutz vor den beißenden Dauerstürmen und bewahrten den Eingang des Hauses vor Schneedünen. Da Holz Mangelware war, hatten viele Häuser keinen richtigen Eingangsbereich. Eis war das einzige Baumaterial in dieser öden
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