Am Rande Der Schatten
waren die meisten anderen Gefangenen bereit, sich am Gitter festzuhalten und zu springen.
Logan hatte keine Zeit dafür - an einem anderen Tag hätte er vielleicht selbst um Fleisch gekämpft. Aber heute würde
er nicht essen, nicht mit diesem Mädchen hier. Ihre Anwesenheit erinnerte ihn an bessere Dinge. Er hätte am liebsten geweint.
»Götter«, sagte er. »Natassa Graesin.« Er hatte die Worte unwillkürlich hervorgestoßen. Er hätte nichts sagen sollen, aber der Schock, einen anderen Adligen zu sehen, war zu groß. Mit ihren siebzehn Jahren war Natassa die zweitälteste Tochter der Graesins. Sie war seine Cousine.
Natassa Graesin starrte ihn an und musterte mit großen, angstvollen Augen das hochgewachsene, ausgemergelte Wrack, das einmal einen kraftvollen, athletischen Körper besessen hatte. Er war ein Schatten dessen, was er gewesen war, aber obwohl er geschrumpft war, war er immer noch groß, unverkennbar groß.
Er hob die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen, aber es war zu spät.
»Logan? Logan Gyre?«, fragte sie.
Er spürte, wie seine Welt endete. Während all der Zeit, die er hier unten verbracht hatte, war er nur König gewesen oder Dreizehn. Im Wahnsinn des Hungers hatte er sich irgendwann den anderen angeschlossen, die um das Loch herumstanden, um Brot aufzufangen - mit seinen langen Armen bekam er mehr als die meisten, um den Preis, dass er Gorkhy hatte wissen lassen, dass sich im Loch ein hochgewachsener blonder Mann befand. Aber er hatte nie, niemals seinen richtigen Namen benutzt.
Er warf einen Blick über seine Schulter und sah, dass noch immer neue Gefangene ins Loch sprangen und der Länge nach auf dem Boden aufschlugen. In der fast vollkommenen Dunkelheit waren sie blind und verängstigt, sie wimmerten und kreischten und fluchten und weinten, während sie hörten,
wie die Locher über das frische Fleisch herfielen. Die Locher kämpften miteinander, und Gorkhy lachte und johlte angesichts des Spektakels. Außerdem nahm er Wetten darauf entgegen, was mit einem jeden Gefangenen geschehen würde, und die Heuler heulten. Eine Menge Lärm, eine Menge Verwirrung, eine Menge Ablenkung. Vielleicht hatte niemand etwas bemerkt.
Aber einer der neuen Gefangenen wimmerte nicht, er war nicht verwirrt, und er war nicht abgelenkt. Tenser Vargun wirkte nicht verängstigt, trotz des Lärms, der Hitze, des Gestanks, der Dunkelheit und der Gewalt. Er schaute mit zur Seite geneigtem Kopf zu Logan und Natassa hinüber und blinzelte in der mitternachtsschwarzen Dunkelheit. Er wirkte nachdenklich.
29
Elene konnte nicht atmen. Kylar hatte sie nicht nur verlassen; er hatte Uly mitgenommen. Die Zurückweisung war vollkommen. Und dabei hatte es so ausgesehen, als entwickelten sich die Dinge gut.
Nein, die Dinge hatten sich gut entwickelt. Elene konnte es nicht glauben, wollte es nicht glauben. Sie durchsuchte die Küche nach irgendeinem Zeichen. Sie fand einen Fleck auf den Dielenbrettern, dunkel auf dunklem Holz und hastig gesäubert. Es sah nicht so aus, als sei beim Kochen etwas verschüttet worden, aber sie konnte auch nicht erkennen, was es war.
Sie ging nach oben. Kylars graue Blutjungenrobe war verschwunden, ebenso wie Vergeltung. Sie schob die Kiste zurück unters Bett, als ihr Blick auf das Symbol der cenarischen Sa’kagé fiel, das in den Nachttisch geritzt worden war. »Wir haben das Mädchen«, stand darunter zu lesen, in einer ordentlichen Handschrift. Elenes Herz krampfte sich abermals zusammen.
Irgendjemand hatte Uly fortgeholt, und Kylar hatte denjenigen verfolgt. Die Entdeckung brachte Furcht und Freude gleichermaßen. Kylar hatte sie nicht im Stich gelassen, aber Uly war von irgendjemandem entführt worden, der wusste, wer er war. Von jemandem, der versuchte, Kylar in eine Falle zu locken. Aber wo war Kylar gewesen, als man Uly geholt hatte? Wenn jemand sich Uly auf der Straße gegriffen hatte, hätte er vielleicht einen Zettel an der Türschwelle zurückgelassen, aber Elene glaubte nicht, dass der Entführer es gewagt hätte einzubrechen, solange Kylar da war.
Von unten kam ein lauter Ausruf, und jemand hämmerte an die Tür. »Macht die Tür auf. Im Namen der Königin, macht die Tür auf!«
Als Elene sah, dass Tante Mea die Stadtwache hereinließ, schnürte sich ihr die Kehle vor Angst zusammen. In Cenaria galten die Wachen als so korrupt, dass niemand ihnen traute. Aber dann sah Elene Tante Meas offenkundige Erleichterung.
Sie brauchten fast eine Stunde, um die Situation zu
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