Am Rande Der Schatten
würde das ganze Haus absuchen. Er würde ihre Nachricht finden, und er würde Vi direkt zum Gottkönig folgen.
Jetzt brauchte Vi sich also nur noch zu überlegen, wie sie ein heulendes Kind aus der Stadt schmuggeln konnte.
»Lass es uns noch einmal versuchen«, sagte Vi. »Wie heißt du?«
»Uly«, antwortete das kleine Mädchen, dessen Gesicht fleckig von Tränen war.
»Also schön, Uly, wir brechen auf. Du kannst lebend oder tot mit mir kommen. Es spielt keine Rolle. Du hast deinen Zweck erfüllt. Ich werde deine Hände an den Sattel binden, sodass du vom Pferd springen kannst, wenn du willst, aber dann wirst du lediglich getreten und zu Tode geschleift werden. Deine Entscheidung. Mach den Mund auf.«
Uly öffnete den Mund, und Vi stopfte den Knebel hinein. »Sei still«, sagte sie. Stirnrunzelnd musterte sie den Lumpen. »Sag etwas.«
»Hmmm?«, machte Uly.
»Verdammt.« Vi konzentrierte ihre Willenskraft auf den Lumpen. »Sei still!«, flüsterte sie. »Noch einmal.«
Ulys Mund bewegte sich, aber kein Laut kam heraus. Vi entfernte den Lumpen; er war jetzt nicht mehr notwendig. Es war ein kleiner Trick gewesen, den sie vor einigen Jahren zufällig entdeckt hatte. Ein lediglich schweigendes Kind würde
leichter aus der Stadt herauszubekommen sein als ein geknebeltes. Vi sattelte ihr Pferd und dazu das zweitbeste Pferd im Stall.
Binnen einer halben Stunde verblasste Caernarvon in der Ferne, aber der Weg zur Freiheit war noch immer weit.
27
Kalter Zorn ließ die Welt in einem weißen Feuer brennen. Kylar rannte über das Dach. Er erreichte den Rand und sprang, schwebte durch die Nachtluft. Er überwand die etwa sieben Meter messende Lücke mühelos und lief die Mauer hinauf. Dann stieß er sich davon ab, packte den vorspringenden Dachbalken und schwang sich darauf, ohne auch nur zu wackeln.
Das alles hatte er getan, während er unsichtbar gewesen war, eine Tatsache, die ihn noch vor wenigen Tagen ungeheuer gefreut hätte. Heute hatte er nicht mehr die geringste Fähigkeit, Freude zu empfinden. Sein Blick glitt über die dunklen Straßen.
Bevor er fortgegangen war, hatte er Jarls Blut vom Boden gewischt - er wollte nicht, dass Elene sich darum kümmern musste. Den Leichnam seines Freundes hatte er zu einem Friedhof gebracht. Jarl würde nicht wie ein Bettler in der Gosse verrotten. Kylar hatte nicht einmal Geld, um einen Totengräber für das Grab zu bezahlen - Danke, Gott -, daher ließ er Jarl auf dem Friedhof liegen und schwor zurückzukehren.
Jarl war tot. Ein Teil von Kylar glaubte es nicht, der Teil, der gedacht hatte, das verweichlichte Leben eines waeddrynischen Heilers könnte seines sein. Wie hatte er das glauben können? Am Leben eines Nachtengels war nichts Verweichlichtes. Gar nichts. Er war ein Bringer des Todes. Tod erhob sich in seinem Kielwasser wie kreiselnder Schlamm hinter einem Stock, den man über den Grund eines klaren, stillen Teiches zog.
Da. Zwei Schläger schikanierten einen Betrunkenen. Götter, war das derselbe Betrunkene, den er neulich nachts seinem Schicksal überlassen hatte? Kylar ließ sich vom Dach fallen, schwang sich auf die nächste Ebene und war in zehn Sekunden auf der Straße.
Der Betrunkene lag bereits auf dem Boden und blutete aus der Nase. Einer der Schläger riss ihm die Börse vom Gürtel, während der andere mit einem langen Messer in der Hand Wache stand.
Kylar ließ sich schimmernd teilweise sichtbar werden; seine Muskeln glänzten schillernd schwarz, seine Augen waren schwarze Kugeln, sein Gesicht eine Maske des Zorns. Er wollte den Mann mit dem Messer lediglich erschrecken, aber als die Augen des Schlägers sich bei seinem Anblick weiteten, hätte Kylar schwören mögen, etwas so Dunkles darin zu sehen, dass er gezwungen war zu handeln.
Bevor er recht wusste, wie ihm geschah, trank sein Kurzschwert Herzblut. Das Messer des Schlägers fiel zu Boden.
»Was machst du da, Terr?«, fragte der Räuber und drehte sich um.
Einen Moment später hatte Kylar den Räuber an der Kehle gepackt und gegen die Mauer gepresst. Er musste den Drang unterdrücken zu töten, zu töten, zu töten.
»Wo ist der Shinga?«, fragte er scharf.
Verängstigt ruderte der Mann mit den Armen und schrie: »Was bist du?«
Kylar fing eine der Hände des Räubers auf und drückte zu. Ein Knochen zersprang. Der Mann schrie. Kylar wartete, dann drückte er fester zu. Ein weiterer Knochen brach.
Der Strom von Flüchen war wenig beeindruckend. Kylar zerquetschte die Hand des
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