Am Rande Der Schatten
würde Kylar Curoch stehlen, nach Torras Bend reiten und sich seinen Arm zurückholen. Es klang einfach genug. Schließlich war das Stehlen nicht schwierig, wenn man sich unsichtbar machen konnte. Und es würde auch keine Sekunde zu früh geschehen, dass er seinen Arm zurückbekam. Sein Stumpf schmerzte, und er hätte es nicht gedacht, aber der Verlust einer Hand kostete ihn das Gleichgewicht.
Du bist nicht hier, weil du nicht weißt, was du tun sollst, Junge. Du wusstest immer, was zu tun war.
Auch das war wahr. Kylar würde diesen Auftrag erledigen und danach Vi suchen und sie töten.
~ Du wirst sie nicht töten ~, sagte der Ka’kari.
»Du bist plötzlich ganz schön redselig, hm?«, fragte Kylar.
Der Ka’kari antwortete nicht. Er hatte jedoch recht. Kylar war nicht hier, um Rat zu erbitten. Nicht wirklich. Er vermisste
nur seinen Meister. Es war das erste Mal seit Durzos Tod, dass er das Grab besuchte.
Tränen begannen zu fließen, und Kylar wusste nur, dass es Tränen der Trauer waren. Er hatte seinen Meister verloren; er hatte das Mädchen verloren, für dessen Rettung er seinen Meister verraten hatte; er hatte die Tochter seines Meisters verloren. Er hatte seine einzige Chance auf ein friedliches Leben verloren. Ein sanftmütiger Kräuterkundiger! Es war vielleicht eine süße Illusion gewesen, aber süß war es tatsächlich gewesen. Kylar war einsam, und er war es müde, einsam zu sein.
Eine Ratte hatte in der Nähe des Fußes von Durzos Hügelgrab ein Loch gegraben. Durzo würde verärgert sein, wenn er die Ewigkeit mit Ratten verbringen müsste, die seinen Leichnam beknabberten. Kylar betrachtete wütend das Loch. Es war so tief, dass das Loch für normale Augen einfach schwarz erschienen wäre, aber Kylar sah an seinem Grund ein deutliches metallisches Schimmern.
Er ließ sich auf die Knie und seinen Stumpf nieder - Au! -, bewegte den Ellbogen ein wenig zur Seite - besser - und griff hinein. Einen Moment später stand er mit einer kleinen, versiegelten Metallschatulle in der Hand auf. Ein Wort war in die Schatulle geritzt worden: »Azoth.« Ein Schauer durchlief ihn. Wie viele Menschen kannten diesen Namen? Kylar nahm die Schatulle unbeholfen zwischen seinen Stumpf und eine Hand und brach sie auf. Darin lag ein Zettel.
»He«, stand dort in Durzos enger Handschrift zu lesen, »ich dachte auch, es sei mein letztes. Er sagte, ich hätte um alter Zeiten willen noch ein weiteres bekommen …« Das Papier vor Kylars Augen verschwamm. Er konnte es nicht glauben. Der Brief ging weiter, aber sein Blick wanderte zu
den letzten Worten: »LASS DICH AUF KEINEN HANDEL MIT DEM WOLF EIN.« Der Brief war einen Monat, nachdem Kylar seinen Herrn getötet hatte, geschrieben worden. Durzo lebte.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Night Angel Trilogy II. Shadow’s Edge«
bei Orbit, Hachette Book Group USA, Inc., New York.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung August 2010
bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random
House Gmbh, München.
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Brent Weeks
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Kartenillustration: Jürgen Speh
Redaktion: Alexander Groß
Lektorat: Urban Hofstetter
Herstellung: Sabine Müller
eISBN : 978-3-641-03833-5
www.blanvalet.de
www.randomhouse.de
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