Am Rande Der Schatten
arbeitete, verflüssigte sich wieder, während er schwitzte. Es ließ ihn aussehen, als schwitze er Blut.
Das Grab war fertig. Jetzt hätte Kylar etwas Bedeutsames sagen sollen.
Er trank noch mehr Wein. Er hatte vier Schläuche mitgenommen und bereits zwei davon geleert. Vor einem Jahr hätten zwei Schläuche ihn niedergeworfen. Jetzt war er nicht einmal angeheitert. Er leerte den dritten Schlauch, dann nahm er pflichtschuldigst einige tiefe Schlucke aus dem vierten, bis auch dieser nichts mehr hergab.
Sein Blick wanderte immer wieder zu Jarls Leichnam hinüber. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Wunden sich schlossen, so wie seine es vor so langer Zeit getan hatten. Aber sie schlossen sich nicht. Jarl war tot. Er hatte in der einen Sekunde noch gelebt, und in der nächsten tat er es einfach nicht mehr. Kylar verstand nun auch den ironischen Ausdruck in Jarls Augen.
Der cenarische Blutjunge, dessen Ermordung Shinga Sniggle angeordnet hatte, war nicht Kylar gewesen, sondern Vi Sovari, und Vi Sovari hatte Jarl mit einem rot-schwarzen Verräterpfeil getötet.
Es hätte Jarl ähnlich gesehen, dem eine gewisse Komik abzugewinnen. Jarl gestand seine Liebe für eine Frau, während diese den Pfeil abschoss, der ihn tötete.
»Scheiße«, sagte Kylar.
Es gab keine Worte, um das ungeheuerliche Ausmaß des angerichteten Schadens auszudrücken. Jarl existierte nicht mehr. Das Ding vor Kylar war ein Brocken Fleisch. Kylar wünschte, er könnte an Elenes Gott glauben. Er wollte denken, dass Jarl und Durzo an einem besseren Ort waren. Aber er war ehrlich genug, um zu wissen, dass das alles war, was er wollte - irgendein halbherziges gutes Gefühl. Selbst wenn Elenes Gott tatsächlich existierte, Jarl und Durzo waren ihm nicht gefolgt. Das bedeutete, dass sie in der Hölle brennen würden, nicht wahr?
Er stieg in das Grab hinab und zog Jarls Leichnam herein. Jarls Haut war kalt und klebrig; der Morgentau sammelte sich darauf. Es fühlte sich nicht richtig an. Kylar bettete ihn so sanft er konnte in die Erde und stieg wieder heraus. Er fühlte sich noch immer nicht betrunken.
Nachdem er sich auf den Haufen weicher Erde neben dem Grab gesetzt hatte, wurde ihm klar, dass es die Schuld des Ka’kari war. Sein Körper behandelte Alkohol wie jedes Gift und heilte ihn davon. Es war so wirksam, dass er gewaltige Mengen würde trinken müssen, um betrunken zu werden. Genau wie Durzo es getan hatte.
Und ich habe ihn für einen Trinker gehalten. Es war nur ein weiterer Punkt, in dem Jarl seinen Meister missverstanden und
verurteilt hatte. Diese Erkenntnis weckte allen Schmerz von neuem.
»Es tut mir leid, Bruder«, sagte Kylar, und während ihm die Worte über die Lippen kamen, begriff er, dass Jarl genau das für ihn gewesen war: ein älterer Bruder, der auf ihn achtgab. Warum war Kylar dazu verdammt, erst dann zu begreifen, was ein Mensch ihm bedeutete, wenn dieser tot war? »Ich werde dafür sorgen, dass dein Tod etwas wert war, Jarl.« Jarls Opfer zu etwas zu machen, das Bedeutung hatte, verlangte von ihm, sich von Elene und Uly und dem Leben, das hätte sein können, abzuwenden. Er hatte Uly geschworen, dass er sie nicht im Stich lassen würde, wie alle anderen Erwachsenen in ihrem Leben es getan hatten. Und jetzt tat auch er es.
War es auch für Euch so, Meister? Ist das der Punkt, an dem dieser Ozean von Bitterkeit begann? Ist das Aufgeben meiner Menschlichkeit der Preis meiner Unsterblichkeit?
Es gab nichts mehr zu tun, nichts mehr zu sagen. Kylar konnte nicht einmal weinen. Als die ersten Morgenvögel begannen, das Loblied der erwachenden Sonne zu singen, schaufelte er das Grab zu.
30
Zwei Tage lang sprach Uly nicht, und sie aß und trank auch nicht. Vi lenkte sie in unbarmherzigem Tempo zuerst in westlicher, dann in nördlicher Richtung über die Straße der Königin. In der ersten Nacht kamen sie an den großen Anwesen der waeddrynischen Adligen vorbei. Als sie einige Stunden
nach Sonnenuntergang haltmachten, befanden sie sich in Bauernland. Die Felder waren kahl, die gewellten Hügel bedeckt mit den unregelmäßigen Stoppeln abgeernteten Dinkels.
Am ersten Tag wartete Uly ungefähr zehn Minuten ab, bis Vis Atmung einen regelmäßigen Rhythmus angenommen hatte, dann rannte sie zu ihrem Pferd hinüber. Sie hatte das Tier noch nicht einmal losgebunden, als Vi sie wegriss.
Am zweiten Tag wartete Uly eine Stunde. Sie stand so leise auf, dass Vi es beinahe nicht bemerkt hätte. Diesmal konnte Uly das Seil lösen
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