Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
gewartet. Ich hab mir ein bisschen Sorgen gemacht.«
»Tut mir leid. Ich musste was erledigen.«
»Du hast mir gefehlt, weißt du?« Er beugte sich zu ihr herab. »Du vertraust mir nicht, ist es das?«
»Natürlich vertraue ich dir.« Sich selbst vertraute sie nicht.
»Was ist es dann? Ich wollte dich nicht anschreien. Es tut mir leid, ja?«
»Das ist es nicht.« Sie machte den Mund auf, um ihm zu erzählen, was für eine Lügnerin sie doch war, doch bevor sie etwas sagen konnte, kam sein Gesicht auf ihres zu, und seine stahlharten Arme schlossen sich um sie, und dann küsste er sie.
Sie löste sich schließlich von ihm, außer Atem.
Ronald schien ein bisschen schockiert über das, was er getan hatte. »Ich … äh … Sorry.«
Sie sah zu Boden und versuchte, das Lächeln zurückzuhalten, das sich auf ihrem Gesicht breitmachen wollte. Sie schaffte es nicht. »Na, das war ja mal eine Überraschung.«
»Ja. Ja. Für mich auch.«
Sie riss sich zusammen. »Ich geh dann mal … Meine Schicht fängt gleich an.«
»Ja. Okay.« Ronald, der immer noch ziemlich verwirrt dreinsah, trat einen Schritt zurück, um ihr den Weg frei zu machen.
Als Keisha von ihrer Schicht nach Hause kam, schwebte sie dermaßen auf Wolke sieben, dass sie einen Moment gar nicht mitbekam, dass Charlotte wieder da war. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, sich an alle Einzelheiten des Kusses zu erinnern, an jeden Atemhauch, jede Bewegung. Dann sah sie den Pass auf dem Tisch und die Spur der Kleidungsstücke auf dem Boden, die zu Charlottes Schlafzimmer führte. Neue Sachen, noch mit Etiketten dran. Charlotte war in ihrem Zimmer und packte ihren Koffer aus. Sie hatte einen ziemlichen Sonnenbrand.
»Du bist wieder da?«
»Ja.«
»War’s schön?«
»Ja.« Sie sah sich nicht zu Keisha um.
Hm, ich bin auch ganz begeistert, dich wiederzusehen. Irgendwas war passiert. »Hör mal, ich habe meine Aussage aufgeschrieben, wie du wolltest. Jedenfalls habe ich damit angefangen. Ich dachte mir, na ja, ich kann’s ja mal probieren.« Keisha ging in die Küche, und Charlotte folgte ihr. Sie lehnte sich steif an den Türrahmen, die Schultern hochgezogen.
Keisha sah sie an. »Was ist?«
»Ich muss dir was sagen.« Charlotte schaute jämmerlich drein.
»Scheiße. Was hab ich getan?«
»Nichts. Es geht um Chris. Sie haben ihn verhaftet. Während ich weg war. Und ich glaube … Ich glaube, ich habe ihn vor meiner Abreise gesehen. In dem Obdachlosenasyl, in dem ich gearbeitet habe. Und ich glaube, er weiß möglicherweise … dass du hier wohnst.«
Keisha fühlte sich einen Moment lang, als würde sie gleich ohnmächtig umkippen.
»Es tut mir leid! Ich war mir nicht sicher, und ich wusste nicht, ob … ob du es dir dann noch mal überlegen würdest, mir zu helfen. Schau mal!« Charlotte zog den Brief der Gefängnisverwaltung aus der Obstschale auf dem Tisch. »Schau: Dan ist krank. Es bringt ihn um, da drin zu sein! Ich muss ihn da rausholen!«
Keisha spürte es in dem Blut, das ihr durch die Adern schoss: Ihr Zorn war wieder da. Sie musste jetzt irgendwas kurz und klein schlagen oder irgendwem eine knallen. Die sowieso nie genutzte hölzerne Obstschale stand direkt vor ihrer Nase. Sie fegte sie vom Tisch, und die Schale prallte gegen einen Küchenschrank und blieb, nachdem sie noch ewig – wie ein Kinderkreisel – herumgescheppert war, schließlich irgendwo liegen.
»Ich kann nicht glauben, dass du das gemacht hast. Du hast ihn gesehen und mir nichts davon gesagt? Scheiße, ich war hier die ganze Zeit allein … und du vertraust mir nach alldem immer noch kein bisschen.«
»Doch, ich vertraue dir!«
»Verarschen kann ich mich selber!«
»Ich wusste nicht, ob du nicht vielleicht wieder zu ihm zurückgehen würdest! Ich hab doch gesehen, dass du dich immer noch jedes Mal nach ihm umgeguckt hast, wenn du vors Haus gegangen bist. Ich musste Dan helfen.«
»Dan? Dan interessiert sich einen Scheißdreck für dich, und das weißt du auch. Wieso gibst du’s nicht einfach auf und schnappst dir deinen blöden Bullen? Versteh ich echt nicht.«
Charlotte war schon wieder den Tränen nah. »Ich liebe Dan.«
»Ja, klar«, höhnte Keisha.
Charlotte schluchzte und ließ die Schultern hängen. »Es tut mir so leid. Ich wollte nicht, dass …«
Keisha marschierte in ihr kleines Zimmer und fing an, Sachen in die bestickte Tasche ihrer Mutter zu stopfen. Die Dinge aus Mercys Haus, ein paar Klamotten, irgendwas. Sie konnte kaum noch klarsehen. »Pack
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