Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
gesprochen, was ihr wirklich gerade durch den Kopf ging – die Sache mit ihrem Vater.
Als Charlotte abgereist war, fing Keisha an, sich unwohl in der Wohnung zu fühlen – als hätte sie kein Recht, dort zu sein. Sie wartete ewig, bis sie vor die Tür ging, um nur ja nicht der alten Frau oder dem Pärchen von unten zu begegnen, die sie alle immer so komisch anguckten. Sie hatte nicht vergessen, dass es dieser Mann gewesen war, der sie damals das erste Mal ins Haus gelassen hatte – während sie sich an dem Geldbeutel festgehalten hatte, als wäre es ein Zauberschlüssel oder so.
Sie taperte auf Zehenspitzen durch die Wohnung und lauschte dem Verkehrslärm in der Ferne. Manchmal klingelte das Telefon, hörte gar nicht mehr auf, aber wenn sie mal ranging, damit wieder Ruhe war, meldete sich keiner. Inzwischen fehlten einige Möbel, Charlotte hatte die besten Stücke verkauft: einen komischen Sessel, der offenbar viel wert war, ein Gemälde, das Ruby echt besser hingekriegt hätte, und allerhand Schmuck. Das hatte ihnen in den vergangenen Monaten geholfen, die Wohnung zu halten, aber Keisha war immer klar gewesen, dass das nicht ewig so weitergehen konnte. Einige Male hatte sie mit angehört, wie Charlotte mit der Bank telefoniert und mit ihrer traurigen Stimme um irgendwas gebeten hatte. Die Wohnung würde also verkauft werden, und sie musste weiterziehen. Aber wohin?
Um dieser Stille zu entfliehen und dem Gefühl, dass sie irgendwie beobachtet wurde, hatte sie angefangen, viel Zeit im Club zu verbringen, wo Ronald mehr oder weniger zu wohnen schien. Es war angenehm, nur so mit ihm rumzuhängen, nicht auf die Straße zu müssen und da Angst zu haben, dass jemand ihr folgte. Nachdem sie erfahren hatte, dass Chris im Club aufgetaucht war, hatte sie überlegt, den Job hinzuschmeißen. Wegzulaufen. Aber wohin hätte sie gehen sollen? Außerdem gab Ronald ihr irgendwie ein Gefühl von Sicherheit. Solange er in der Nähe war, konnte man sich nicht vorstellen, dass irgendwas Schlimmes passieren konnte. Und von Chris hatte es seitdem ja auch keine Lebenszeichen mehr gegeben. Vielleicht war er es ja gar nicht gewesen. Rachel konnte sich auch getäuscht haben.
Wenn sie das Haus verließ, bestand ihr erster Gang neuerdings darin, ihren Kontostand zu checken, der dank ihrer Einnahmen aus dem Club eine erfreuliche Entwicklung nahm. Es war so viel, dass sie eines Tages vielleicht an eine eigene Wohnung würde denken können … mit Ruby. Sie konnten ja woanders hinziehen, wo Chris sie nicht finden würde, und dann müsste sie gar nicht mehr rauskriegen, was Charlotte wusste, und der Polizei auch nicht mehr das mit der Tür erzählen – und alles andere auch nicht. Mal sehn.
Manchmal ging sie in der Stadt umher, wie in der Zeit, kurz nachdem Chris sie zusammengeschlagen hatte. Wobei sie sich ständig umsah, falls er irgendwo auftauchte. In Camden, manchmal ganz bis zum Russell Square. Sie dachte nicht darüber nach, warum sie so oft ausgerechnet dahin ging. Sie setzte sich auf eine Bank unter den Bäumen auf diesem kleinen Platz mit dem Springbrunnen und fragte sich, ob jemand sie wohl für eine Studentin hielt. Wenn jemand sie angeguckt und gefragt hätte: »Was machst du denn hier?«, hätte sie demjenigen gesagt, dass ja wohl jeder hier auf einer Bank sitzen dürfe, verdammt noch mal. Wenn es dann Zeit wurde, ging sie zum Club, wo Ronald schon auf sie wartete.
Als der Sommer zu Ende ging, änderte sich das Publikum auf dem Platz, und es war dort mehr los. Nach ihrem Aussehen zu schließen waren die meisten neuen Leute angehende Studenten, noch grün hinter den Ohren. Sie gingen zum »Tag der offenen Tür«, das hörte Keisha zufällig mit an – was auch immer das war. Eines Tages, als Keisha dort saß, schaute sie auf dem Rasen gegenüber einem kleinen Kind beim Spielen zu. Es schien noch Ewigkeiten hin zu sein, bis Ruby wieder zur Schule gehen würde und Keisha sie dort nach Schulschluss beobachten konnte. Den ganzen Sommer über hätte sie genauso gut zum Mond geflogen sein können oder so.
Der Studi, der neben ihr saß – ein Junge in Klamotten, die seine Mutter für ihn ausgesucht haben musste –, wurde von anderen jungen Leuten zu ihnen gerufen. Er ließ eine Art Broschüre auf der Bank liegen: bunt, auf gutem Papier. Keisha nahm sie und drehte sie hin und her. Es ging darin um all das, was an der Uni stattfand – Vorträge, Seminare und so weiter. Man stelle sich vor, man wäre ein Student: Man würde den
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