Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
ganzen Tag nichts anderes tun, als da rumzuhocken und Leuten zuzuhören, die was erzählten! Sie blätterte weiter, und plötzlich stieß sie auf den Namen. Ian Stone.
Sie setzte sich auf und sah noch mal genauer hin. Ian Stone , stand da. Professor der Jurisprudenz. Fellow emeritus. Forschungsschwerpunkt: Bürgerrechte . Da war auch ein kleines Foto von einem Mann mit Pferdeschwanz. Und Ohrring. Nicht zu fassen: Ian Stone – wahrscheinlich ihr Vater – war ein langhaariger Typ, der einen Ohrring trug. Und er würde in ein paar Wochen an der Uni hier an einer Podiumsdiskussion teilnehmen. Keisha stand auf, steckte die Broschüre ein und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Auf der Busfahrt fing sie an, darüber nachzudenken. Über der Ankündigung der Veranstaltung stand ein kurzer Text, ein Zitat von Ian Stone: Auch wenn Sie kein Jurastudent sind: Wir alle können für die Gerechtigkeit kämpfen. Jeder von uns kann etwas dafür tun . Und darunter folgte ein weiteres Zitat, von irgendeiner Berühmtheit: Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen . Keisha sah diesen Satz lange an, während der Bus durchs sommerliche Camden fuhr, wo die Leute draußen vor den Lokalen saßen, sich amüsierten und etwas tranken. Kinder auf Fahrrädern. Der Kanal, glitzernd im Sonnenschein des Nachmittags. Keiner von denen war eingesperrt wie sie, die vor allem weglief und dabei doch nicht von der Stelle kam. Die sich bei jedem Schritt, den sie tat, umsah.
Schreib es auf, hatte Charlotte gesagt. Für Ruby. Versuch es zu erklären. Wie sollte sie denen klarmachen, dass sie sich nur deshalb von ihrer Tochter ferngehalten hatte, weil das besser für die Kleine war, weil das auch die bösen Leute von ihr fernhielt? Würde Ruby es verstehen, wenn sie es ihr eines Tages erzählen würde?
Sie dachte über all das nach, was sie wusste. Das Blut. Die Schuhe. Manchmal hatte sie das Gefühl, unter der Last all dieser Dinge zu zerbrechen.
Als Keisha zur Arbeit kam und sah, dass niemand im Büro war und der Computer da ungenutzt rumstand, kam irgendwie eines zum andern. Sie setzte sich hin und fing an zu tippen, so schnell sie konnte, und machte viele Fehler dabei. Sie schrieb einfach alles auf, was geschehen war und woran sie sich erinnerte. Alles, was sie keinem je erzählt hatte. Und es tat gut, all das mal rauszulassen, was sie so lange in ihrem Kopf mit sich rumgetragen hatte wie in einem zum Platzen gefüllten Koffer.
Sie ging so in dieser Arbeit auf, dass sie ganz vergaß, dass sie ja eigentlich mit Ronald zum Kochen verabredet war. Dann hörte sie, wie die Tür des Büros aufging, hob den Blick und erstarrte.
Ronald stand in der Tür. »Was machst du denn da?«
Sie sah auf ihre Finger auf der Tastatur hinab, an dem Computer, den niemand benutzen durfte. »Ich wollte bloß …«
»Du darfst da nicht ran. Keiner darf da ran. Scheiße …« Er war mit ein paar Schritten bei ihr, während sie noch mit der Maus hantierte und versuchte, das Geschriebene zu speichern und das Text-Fenster zu schließen.
»Warte mal, ich wollte nur …«
»Du darfst nicht alleine hier drin sein, mein Gott, was machst du denn …« Er riss ihr die Tastatur weg, und mit einem Mal bekam sie Angst, denn es war ganz ähnlich wie damals in ihrer Küche, bevor Chris …
Keisha merkte erst, dass sie schrie, als sie Ronalds Gesicht sah. »Hey, tut mir leid. Tut mir wirklich leid, Keesh, ich wollte dich nicht … Ich kann bloß nicht zulassen, dass du hier interne Sachen siehst.« Er schaute verlegen. »Ich schwöre dir, ich würde dir niemals was tun.«
Sie atmete weiter. »Ich weiß.« Und sie wusste es wirklich, das wurde ihr in diesem Moment klar. Er würde nie jemanden k. o. schlagen, nie eine Flasche zerdeppern, um … Er stand vor ihr. Das Licht schimmerte auf seiner dunklen Haut. »Es tut mir leid, Ron, ich wollte nur … äh, mich für einen Kurs bewerben, weiter nichts. Ich hab überhaupt nichts gesehen, ehrlich nicht.«
Sie sah, dass er versuchte, sich zu beruhigen. »Schon gut, schon gut. Ich hab da bloß einige Privatsachen drauf. Aber dass du dich für einen Kurs bewerben willst, finde ich prima. Weiterbildung kann nie schaden.«
Er war immer so unglaublich nett zu ihr. Das war das Problem. Sie wollte aufstehen. »Ich sitze auf deinem Platz.«
»Warte. Keesh.« Er streckte eine Hand aus und hielt sie zurück. Er war einen halben Kopf größer als sie. »Du bist heute nicht zum Kochen gekommen. Ich hab auf dich
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