Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
wollen sich vielleicht ein wenig ausruhen. Hier passiert heute nichts mehr. Die Verhandlung ist für morgen früh um zehn Uhr anberaumt, am Magistrates’ Court. Das ist in der Holloway Road. Die Adresse bekommen Sie draußen.«
Sie versuchte, das zu verarbeiten. »Dann kann er morgen also wieder nach Hause kommen? Bei dieser Verhandlung geht es um die Kaution, nicht wahr?«
»Darüber sollten Sie mit dem Pflichtverteidiger sprechen. Haben Sie einen Anwalt, Mr Stockbridge und Sie?«
»Natürlich nicht, warum sollten wir?«
»Dann sollten Sie sich schnell einen besorgen. Am Empfang gibt man Ihnen gern ein paar Telefonnummern.«
»Er war Richter …« Sie erhob sich mit bewundernswerter Gefasstheit. »Dans Vater. Am High Court, zwanzig Jahre lang.«
Hegarty rang sich ein Lächeln ab. »Dann wird er Ihnen sicherlich raten, so schnell wie möglich einen Anwalt zu engagieren.«
Charlotte
Als Charlotte endlich gehen durfte, wurde es schon dunkel. Sie trat in das stille, regennasse Camden hinaus. Am Mai-himmel zogen dunkle Wolken auf. Nachdem sie zwanzig Minuten lang zitternd vor Müdigkeit auf einen Bus gewartet hatte, kehrte sie in ihre durchwühlte Wohnung zurück. Sie wusch sich den Geruch des Polizeireviers aus dem Haar, und gleich ging es ihr besser. Dann griff sie zum Telefon und lauschte dem Freizeichen. Sie stellte sich den vornehmen Tonfall von Dans Mutter Elaine vor: »54372, guten Tag.« Hallo zu sagen wäre offenbar unhöflich gewesen. Oder die Stimme seines Vaters, Richter Edward Stockbridge: »Wie bitte? Wie bitte? Sprich doch etwas lauter, Charlotte.«
Charlotte war natürlich klar, dass sie einen Anwalt engagieren sollte, doch bei dem Gedanken, die Stockbridges anzurufen, wurde ihr noch unwohler als ohnehin schon. Würde sich die ganze Angelegenheit nach der Verhandlung nicht sowieso erledigt haben? Dan war nur ein paar Minuten lang fort gewesen, nicht lang genug, um jemanden umzubringen, um Himmels willen, selbst wenn er dazu in der Lage wäre. Was er nicht war.
Sie legte den Telefonhörer langsam wieder auf. Denn schließlich: Was hätten seine Eltern an diesem Sonntag überhaupt ausrichten können? Vielleicht mussten sie nie von der ganzen Sache erfahren.
Der Kühlschrank war leer – bis auf die Sachen, die sie am Freitag eingekauft hatte. Das schien nun eine Ewigkeit her zu sein. Sie aß drei Oliven, was ihren Magen in Unruhe versetzte. Die Uhr tickte beharrlich vor sich hin, und da ihr das auf die Nerven ging, stand sie auf und stellte die Stereoanlage an, die aber gleich die zuletzt gehörte CD abspielte: der Song für ihren ersten Hochzeitstanz. Sie machte die Anlage wieder aus und widerstand dem Verlangen, auf ihren Fingernägeln herumzukauen. Damit hätte sie monatelange sorgfältige Pflege zunichtegemacht. Ein Tag noch, dann war das alles wieder vorbei, und sie konnte all die Dinge, von denen ihr jetzt der Kopf schwirrte, wieder vergessen.
Die Zeugen. Der Streit. Die Droge … Das stimmte alles, aber dennoch hatte sie immer wieder den Mund aufgemacht, um »Ja, aber …« zu sagen. Wenn man selbst die Beschuldigte war, gab es für alles eine Erklärung. Währenddessen hatte der junge Polizist – der ihr zu tief in den Ausschnitt hatte sehen können – einen Beweis nach dem anderen aus seinem nicht vorhandenen Hut gezaubert.
Charlotte konnte diesen Polizisten nicht ausstehen. Er hatte auf alles eine Antwort. Und außerdem hatte er auf ihrem cremefarbenen Teppichboden einen großen Fußabdruck hinterlassen. Rotbraun und klebrig. Sie wusste, was das war. Es war Blut, Blut von diesem Johnson – verschmiert auf ihrem Wohnzimmerfußboden.
Sie ging zu dem Schrank im Eingangsbereich, in dem die Putzfrau ihre Ausrüstung verwahrte, und kramte darin herum, bis sie einen Lappen fand. Da sie nie selbst putzte, wusste sie nicht, was sie im Hause hatten.
Sie schrubbte an dem Fleck herum, bis nur noch ein rötlicher Rand übrig war, und goss die blutrote Lauge dann fort. Hinterher rochen ihre Hände wie nach alten Metallrohren. Morgen früh würde sie aufstehen, ihre Haare zurechtmachen, zu dem Gerichtstermin gehen, Dan nach Hause holen und das hier als eins der schlimmsten Wochenenden ihres Lebens verbuchen. An ihrem ersten Hochzeitstag war sie dann vielleicht so weit, es als lustige Begebenheit aus ihrem Vorleben anzusehen – doch das bezweifelte sie.
Montag
Keisha
»Herrgott! Du hast mich erschreckt.«
Er saß auf dem Schmutzwäschehaufen neben dem Bett und sah sie an. Sie setzte sich
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