Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
»Ja« antwortete. Charlotte konnte nicht hören, was da vor sich ging, denn die Frau sprach sehr leise. Dann sagte sie: »Hohes Gericht, wir sind hier versammelt, um in der Sache der Königin gegen Daniel Stockbridge über die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls gegen Sicherheitsleistung zu entscheiden. Mr Stockbridge wurde am Samstagvormittag wegen des Mordes an Anthony Johnson festgenommen, Besitzer des Nachtclubs Kingston Town in Camden. Der festnehmende Beamte, DC Matthew Hegarty, ist anwesend und bereit, Fragen zur Beweislage zu beantworten, falls das Gericht es wünscht.«
Sie hielt inne und rückte ihre Brille zurecht, die im trüben Neonlicht schimmerte. Charlotte ertappte sich dabei, so fest die Hände zusammenzupressen, dass die Durchblutung fast abgeschnürt wurde. Weiteres Gemurmel. »Es wird aufgerufen: DC Matthew Hegarty.«
Der Polizist eilte sofort in den Zeugenstand. Er konnte am Wochenende auch nicht allzu viel geschlafen haben, wirkte aber putzmunter, wohingegen Charlotte sich fühlte wie vom Bus gestreift.
Er ließ sich mit lauter Stimme und in nordenglischem Tonfall vereidigen, und dann fragte die Staatsanwältin: »Officer Hegarty, können Sie den Angeklagten mit dieser Sache in Verbindung bringen?«
Der Polizist beugte sich lächelnd vor und sagte: »Ja, der Auffassung sind wir.«
»Befürworten Sie in diesem Fall eine Freilassung gegen Kaution?«
Der Polizist beugte sich noch weiter vor. »Hohes Gericht, wir haben es hier mit dem schwerwiegenden Fall eines brutalen, womöglich rassistisch motivierten Mordes zu tun. Der Angeklagte hat Anzeichen für gewalttätiges und labiles Verhalten gezeigt und stellt insofern möglicherweise eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.« Er machte eine Atempause. Im Gerichtssaal wurde Gemurmel laut; Charlotte versuchte, sich die Ohren zuzuhalten. Am liebsten hätte sie sich an die Anwesenden gewandt und gerufen: Es tut mir leid, dass er tot ist, aber Dan war’s nicht! Ihr habt den Falschen!
»Außerdem stehen dem Angeklagten beträchtliche Mittel zur Verfügung, weshalb eine hohe Fluchtgefahr besteht. Der Fall hat zudem ein großes Maß an öffentlichem Interesse erregt, und daher könnte eine Freilassung gegen Kaution zu einer Gefährdung der Sicherheit des Angeklagten führen.« Der Polizist lächelte. Wollte er damit etwa sagen, dass sie Dan zu seinem eigenen Wohl ins Gefängnis stecken sollten? Charlotte war fassungslos.
Es folgten noch einige Wortwechsel, und dann setzte sich die Staatsanwältin wieder und ordnete ihre Papiere. Die drei Laienrichter – in der Mitte eine Frau und rechts und links je ein Mann, ein Asiate und ein Weißer – kritzelten wie wild vor sich hin.
Dans Verteidiger, Mr Crusty, erhob sich langsam, und Charlotte lauschte wie gebannt seiner zitternden Stimme, die immer wieder von lautstarkem Schnäuzen in sein Stofftaschentuch unterbrochen wurde. Er stellte dem Polizisten einige Fragen. Hatte Dan sich für unschuldig erklärt? Hatte er die Anschuldigungen bestritten? Hatte er auf sein Recht auf anwaltlichen Beistand verzichtet? Traf es zu, dass sich Dan nicht vollständig an den Zwischenfall erinnern konnte? Der Polizist beantwortete all diese Fragen mit selbstsicherem Lächeln.
Es zog sich hin. Mr Crusty handelte die angesprochenen Punkte nacheinander ab und schloss jeweils mit den Worten: »Hohes Gericht, das sind weiter nichts als Indizien.« Er brachte nicht einmal das zur Sprache, was Charlotte für das naheliegendste Argument hielt, dass nämlich Dan kein Blut an sich gehabt hatte, als sie in dieser Nacht den Club verließen. Wenn er tatsächlich jemanden erstochen hätte, hätte er ja wohl Blut an sich gehabt!
Irgendwann hörte Charlotte nicht mehr zu. Ihre Fingerknöchel waren weiß, so sehr presste sie die Hände zusammen, in dem Bemühen, nicht aufzuspringen und zu schreien, was für ein Blödsinn das alles sei. Natürlich hatte Dan es nicht getan. Herrgott noch mal, er war ein Banker. Er kaufte seine Krawatten in der Savile Row. In ein paar Jahren würde er einen Bauchansatz bekommen, und sein Haar würde sich lichten. Er brach doch wegen einer abgelehnten Kreditkarte keine Kneipenschlägerei vom Zaun.
Die Tatsachen glichen einem Kreuzworträtsel, das sie einfach nicht zu lösen vermochte. Der Club. Der Streit. Die Festnahme. Selbst wenn man die Droge einbezog, die sie beide verändert zu haben schien, wusste sie, dass Dan so etwas einfach nicht tun würde. Nein, nein, nein. Das würde er nicht tun. Das
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