Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
wieder mal verschwunden war. »Du Scheißkerl«, sagte sie laut und machte sich direkt auf den Heimweg.
Charlotte
Da es bis zur Hochzeit nur noch eine Woche war, rief Charlottes Mutter inzwischen viermal täglich bei ihr an. Hatte sie die Nachricht bekommen, dass sich Tante Jan neuerdings gluten- und milchfrei ernährte? Hatte sie herausgefunden, wie der neue Freund ihrer Cousine Lucy mit Nachnamen hieß? Denn man konnte ja schließlich nicht einfach nur den Vornamen auf eine Tischkarte schreiben. Und was war, wenn die Rosen nicht den richtigen rosa Farbton hatten? Dann würden sie sich mit der Farbe der Tischwäsche beißen! Und ausgerechnet jetzt, als Charlotte an der Kasse des Waitrose an der Finchley Road mit ihrem Korb voller Freitagabendeinkäufe zu kämpfen hatte, klingelte ihr Handy.
»Mum?«
»Hallo? Hallo? Meine Güte, ich höre dich ganz schlecht!« Charlottes Mutter telefonierte nur, wenn sie an ihrem speziellen Telefontisch saß, Stift und Notizblock griffbereit. Sie verstand einfach nicht, dass ihre Tochter auch ans Telefon ging, wenn sie bei der Arbeit war oder im Fitnessstudio oder gerade eine viel befahrene Straße überquerte.
»Warte mal kurz, Mum. Ich zahle nur schnell.«
»Wie bitte? Ach so, du bist in einem Geschäft .« Gail hielt es für äußerst unhöflich zu telefonieren, während man in einem Laden bedient wurde.
Charlotte klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr und legte ihre Einkäufe aufs Band: Oliven, Ciabatta, eine gute Flasche Prosecco …
»Hallo? Hallo? Mir ist gerade noch etwas eingefallen, Schatz. Was ist denn, wenn jemand laktoseintolerant ist?«
Charlotte fischte ihre Kreditkarte heraus. »Wenn jemand was ist?«
»Das Hähnchen, Charlotte. Das wird in Sahne gekocht. Manche Leute essen so etwas nicht. Deshalb war ich ja so für den Lachs. Hähnchen ist … nun ja, Schatz, für eine Hochzeit ein doch recht schlichtes Gericht.«
Charlotte atmete tief durch – wie Dan es ihr geraten hatte, wenn ihre Mutter mal wieder loslegte. »Das ist kein Problem. Es wird schließlich vom Mandarin Oriental zubereitet, Mum. Die wissen, was sie tun.«
Die Kassiererin wartete darauf, dass sie zahlte, und Charlotte hörte die nächste Kundin in der Schlange ungeduldig ächzen. Sie schenkte der jungen Frau ein entschuldigendes Lächeln, tippte ihre Geheimzahl ein und begann, ihre Einkäufe in einem umweltfreundlichen Baumwollbeutel zu verstauen. »Entschuldige, Mum, kann ich dich später zurückrufen?« Dann beendete sie das Gespräch, ohne die mindeste Absicht, diesen Worten Taten folgen zu lassen.
Vom Waitrose an der Finchley Road war es nur ein Katzensprung zu Charlottes und Dans Wohnung im zweiten Stock eines wuchtig-gediegenen Reihenhauses im Stadtteil Belsize Park. Charlotte kramte schon nach ihren Schlüsseln, doch irgendwer hatte wieder mal die Haustür einen Spalt breit offen stehen lassen, was sie fürchterlich aufregte. Sie verdächtigte den seltsamen Typ aus dem Souterrain.
Sie bückte sich und hob die Post auf, die im gemeinsamen Hausflur herumlag – auch darum kümmerte sich hier kein Mensch! Reklame, ein Mothercare-Katalog (den Dan sofort mit einem Stirnrunzeln ins Altpapier befördern würde) und eine Karte mit einer Zusage von Tom und Julie. Sie starrte die Namen einen Moment an und überflog im Geiste die endlose Gästeliste, auf der ihre Mutter bestanden hatte. Tom war ein Freund von Dan aus Oxford, dachte sie. Erst eine Woche vorher zuzusagen! Das war so was von unhöflich! Dan zuckte bei so was nur die Achseln und meinte: »Na und?«, aber er hatte ja auch keine pensionierte Mutter, die ihm tagein, tagaus im Nacken saß, und musste sich nicht um tausend Dinge kümmern, vom Haarschmuck der Brautjungfern bis zu den Schleifen der Präsentverpackungen.
Während sie ihre Einkäufe die Treppe hinauftrug, klingelte ihr Telefon erneut, und sie verdrehte die Augen. Bitte nicht schon wieder Mum .
»Charlotte, hier ist Sarah.«
»Ja, das sehe ich«, sagte sie und schloss die Wohnungstür auf.
»Wie bitte?«
»Ich meine: Dein Name wird angezeigt. Ach, egal.«
»Hat Gail mit dir gesprochen, wegen dieser Schuhgeschichte?«
»Sie hat mich vorhin angerufen. Aber da ging es nicht um Schuhe. Ich dachte, das hätte sich erledigt.«
»Hat es nicht! Ich kann diese Schuhe nicht tragen. Ich habe es ihr schon mehrfach gesagt: Ich habe mir einen Zeh gebrochen. Ich kann doch mit einem geschienten Fuß keine Riemchensandalen anziehen.«
Ihre Mutter hatte erwähnt, dass
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