Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
auf der Suche nach ihr war? In diesem Fall würde sie ihn direkt zu Ruby führen.
»Ich habe bei Ihnen immer so den Eindruck, dass Sie glauben, Sie werden bestraft. Dabei ist es doch einfach nur das Beste für Ruby, bis Sie wieder festen Fuß gefasst haben.«
»Aber ich darf sie nicht haben, stimmt’s? Das haben Sie gesagt.« Sie scharrte mit den Schuhen im Kies.
Sandra schaltete in ihren Sozialarbeiter-Tonfall um – hatte sie überhaupt einen anderen? »Ich weiß, Sie haben sich sehr große Mühe gegeben, Ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, aber solange wir nicht sicher sein können, dass Ruby bei Ihnen ein sicheres, stabiles Zuhause geboten bekommt … Das verstehen Sie doch bestimmt.« Sie sagte das so behutsam, dass Keisha ihr am liebsten eine geknallt hätte.
»Ich versuch’s ja. Ich weiß nicht, was ich noch alles tun soll.« Kurz überlegte sie, Sandra zu sagen, dass sie Chris verlassen hatte, aber warum hätte sie das tun sollen? Es war dadurch ja alles nur noch schlimmer geworden, denn jetzt war er hinter ihr her, und sobald der Mietvertrag ihrer Mutter auslief, hatte sie nicht mal mehr eine Bleibe. Sandra sah auch bestimmt, dass sie ein blaues Auge hatte – trotz all der Schminke, die sie sich ins Gesicht geklatscht hatte.
»Sie wissen, was zu tun ist«, sagte Sandra in ihrem nervigen Tonfall. »Ruby braucht ein sicheres und stabiles Zuhause. Und in der Zwischenzeit müssen Sie den Kontakt zu ihr aufrechterhalten – sonst riskieren Sie, das Sorgerecht zu verlieren. Verstehen Sie, was das bedeuten würde, Keisha? Das würde bedeuten, jemand könnte Ruby adoptieren. Endgültig.«
Keisha starrte zu Boden. Als ob das so einfach wäre – ein sicheres und stabiles Zuhause. Aber gut, sie würde erst wieder darum bitten, Ruby wiederzubekommen, wenn sie ihr tatsächlich so etwas bieten konnte. Vorläufig war es einfacher, sich die Kleine irgendwo weit weg vorzustellen, wo sie’s schön hatte und sie glücklich war und ihr nichts passieren konnte. »Geht’s ihr gut?« Ihr versagte fast die Stimme. Aber sie würde nicht anfangen zu weinen. Nicht hier.
»Sie wohnt in einem schönen Haus«, sagte Sandra freundlich. »Bei einem sehr netten Paar, dessen eigene Kinder schon erwachsen sind.«
»Sind die schwarz?«
Sandra schaute entsetzt, denn man sollte ja immer so tun, als ob das keine Rolle spielte. »Nun, ich weiß nicht, inwiefern …«
»Bitte.«
Sandra nickte knapp. »Ja, wir vermitteln Kinder nach Möglichkeit innerhalb ihrer eigenen ethnischen Gruppe.«
Damit war es also amtlich: Ruby war schwarz. Was besagte das über Keisha? Das schien keiner zu wissen, und sie selbst hatte auch nicht den blassesten Schimmer.
Dann schlang Sandra plötzlich ihre dicken Arme um Keisha, die ein wenig zurückschreckte. »Mein aufrichtiges Beileid, Keisha. Ihre Mutter war eine überaus liebenswerte Frau. Denken Sie bitte dran: Ich bin immer für Sie da. Wenn Sie Hilfe brauchen, lassen Sie es mich wissen.«
Großartig, das war genau das, was sie brauchte: Sandra rund um die Uhr an der Backe.
Anschließend kam Mrs Suntharalingam zu ihr, am Arm eines ihrer Ärztesöhne, schick und schlank, im schwarzen Traueranzug. »Sie wird mir sehr fehlen … Wer zieht da jetzt ein – irgendwelche Flüchtlinge mit zehn Kindern? Ah, sie wird mir sehr fehlen.«
»Mir auch.« Sie starrten einander an, alte Feinde, in Trauer vereint. Mrs S aber hatte Kinder, Nichten, Enkel, eine komplette tamilische Großfamilie. Wen hatte Keisha? Chris war nicht mehr da, Ruby war nicht mehr da. Die alte Dame gab ihr noch einen trockenen Händedruck und ging dann weiter ihrer Wege.
Charlotte
Am Montagmorgen ließ der klingelnde Wecker Charlotte aus dem Schlaf hochschrecken. Die Wohnung war so still – ohne Dan, der bereits telefonierte oder sich im Bad rasierte. Anfangs hatte er oft auch unter der Dusche gesungen, Popsongs, in seinem Bariton, so schief, dass sie lachen musste. Doch da sie jetzt daran dachte, konnte sie sich nicht erinnern, ihn in den letzten Monaten singen gehört zu haben, ja, das letzte Mal war Ewigkeiten her. Schon komisch, dass man so was überhaupt nicht bemerkte, bis man irgendwann mal darüber nachdachte.
Sie wollte an diesem Tag wieder zur Arbeit gehen, war aber so langsam, dass sie sich mit Sicherheit verspäten würde. Geschlagene fünf Minuten lang stand sie mit einer Hand unter dem Duschstrahl da, bis ihr klar wurde, dass sie, um warmes Wasser zu bekommen, den Boiler anschalten musste. Das hatte Dan
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