Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
sein. Jetzt kann ich das wenigstens sagen.«
»Aber … warum hast du mir nichts davon erzählt?«
»Ich hätte dir das nicht erklären können. Du hast ja vermutlich die Zeitungen gesehen. Was hast du über mich gedacht, als du erfahren hast, dass diese Frau sagt, wir hätten sie … Paki-Schnalle genannt?«
Sie zuckte zurück. »Ich habe es nicht geglaubt.«
»Es ist aber wahr. Ich habe es ihr zwar nicht ins Gesicht gesagt, aber auch ich habe diese Mails weitergeleitet, auch ich habe gelacht … Wir haben sie alle schikaniert. Denn in diesem Laden gilt: fressen oder gefressen werden. Das ist die Wahrheit. Und ich hoffe, du kommst nie mit so was in Berührung.« Er stand auf und schob ruckartig seinen Stuhl nach hinten.
»Warte! Du kannst nicht einfach weggehen! Du kannst mich doch nicht hier sitzenlassen … Dan! «
Er blickte sich noch einmal zu ihr um. »Hör zu. Es tut mir leid, Schatz. Wirklich. Aber komm bitte nicht wieder.«
Hegarty
Die Frau mit dem schlecht gebleichten Haar trat mit ihrem Turnschuh ihre Zigarette aus, und Hegarty seufzte. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe, Mrs Horton. Ich frage Sie noch einmal: Wann haben Sie Ihre Nachbarin das letzte Mal gesehen?« Die Wohnung unter der Adresse, die ihm Keisha Collins, die grantige junge Frau aus dem Gericht, genannt hatte, war verschlossen, und es schien niemand zu Hause zu sein. Er wusste ohnehin nicht, was er hier eigentlich tat. Einige noch offene Fragen klären? Einer Ahnung nachgehen?
Ihre Nachbarin gab keinen Zentimeter nach. »Wieso wollen Sie das denn überhaupt wissen? Die ist in Ordnung, das Mädel. Hat’s auch nicht leicht im Leben.«
»Haben Sie irgendeine Vermutung, wohin Keisha gegangen sein könnte?«
Jacinta Horton zuckte mit den Achseln. »Er hat sie rausgeschmissen. Das ist alles, was ich weiß. Würd’ mich nicht wundern, wenn er ihr auch ein paar geknallt hätte. Dann ist er selber abgehauen, und gleich anschließend haben sie die Schlösser ausgewechselt.«
»Ihr Freund heißt also Chris Dean?« Sie hatte ihn bereits anhand des unscharfen Handyfotos von Rachel Johnson identifiziert. Immerhin hatte er jetzt einen Namen und wusste, wer der geheimnisvolle Weiße war.
»Ja, das ist er. Ein übler Typ. Deshalb musste sie auch die Kleine weggeben.«
Hegarty machte sich Notizen. Glücklicherweise wurde die Frau sehr viel gesprächiger, sobald es um Chris Dean ging. Ihr Widerwille gegen diesen Mann war offenbar stärker als ihr instinktives Misstrauen gegenüber der Polizei. »Und die Tochter heißt also Ruby Dean, ja?«, fragte er.
»Ja, genau. Ein süßes kleines Ding mit großen dunklen Augen. Sie lebt bei Keishas Mutter, und die wohnt in Gospel Oak, soweit ich weiß.«
»Sie wissen nicht zufällig, wie die Mutter heißt?«
Jacinta kniff die Augen zusammen. »Ich bin ihr nur einmal begegnet, als sie mal zu Besuch war. Hat wirklich ein Herz für Kinder. Mercy – ja, so heißt sie. Mercy Collins, nehme ich mal an.«
Hegarty klappte sein Notizbuch zu. Wie schwierig war es, in Gospel Oak eine Mercy Collins zu finden? Er sollte ja eigentlich gar nicht nach ihr suchen. Der Fall war schließlich geklärt – oder? Er rieb sich erschöpft das Gesicht. »Vielen Dank. Sie waren uns wirklich eine große Hilfe, Mrs Horton.«
Sie bückte sich, um das Verdeck ihres Kinderwagens zu justieren. »Wenn wir das nächste Mal wegen den Banden bei euch anrufen, kommt ja vielleicht tatsächlich mal wer. Die hängen immer im Park rum, mit ihren Fahrrädern. Mit den Kindern muss ich da einen großen Bogen drum machen.«
»Wir tun unser Bestes.« Das war alles, was er in so einem Fall sagen konnte, doch zusehends bewirkte selbst dieses Beste nicht das Geringste.
Keisha
Keisha betrat das Haus ihrer Mutter, schloss die Tür hinter sich und stellte die ausgefranste bestickte Tasche ab. Sie hatte Mercys Brille hineingetan, ihre Bibel und die Halskette mit dem Kreuz daran, die man ihr abgenommen hatte, als sie für die Operation auf den Korridor hinausgeschoben wurde. Eine Fahrt ohne Wiederkehr.
Im Haus war es still, nur die Fensterscheiben schepperten ganz leise vom beständigen Lärm der Busse, die auf der Hauptstraße vorüberbretterten. Keisha ging ins Wohnzimmer, wobei ihre Turnschuhe auf dem schmuddeligen alten Teppich kein Geräusch machten. Dann sprang der Kühlschrank an, und sie fuhr zusammen. »Scheiße«, sagte sie in die Stille hinein.
Es war unglaublich stickig in diesem Haus. Mercy hatte seit schätzungsweise zwanzig
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