Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
Nein. Es gab Dutzende Gründe, weshalb sie keinen von denen anrufen konnte. Es war wirklich niemand für sie da.
Wo waren ihre Freunde denn das ganze Wochenende gewesen, als ihr Telefon kein einziges Mal geklingelt hatte? Bei Holly oder Gemma etwa, wo sie darüber geredet hatten, was für ein schrecklicher Mensch Charlotte doch sei und dass sie sie nie wiedersehen wollten, nachdem ihr Verlobter sich nun als rassistischer Mörder entpuppt hatte? Als die Hochzeit näher gerückt war, hatte sie auf Facebook Fotos bemerkt von abendlichen Unternehmungen, von denen sie vorher gar nichts mitbekommen hatte – hatte sich aber gesagt, ihre Freunde wüssten ja, dass sie mit Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt war und sich die Wochenenden für Dan freihielt. Er arbeitete schließlich achtzig Stunden die Woche. Sie sah ihn ja kaum.
Jetzt aber war sie allein, und die Stille in der Wohnung hüllte sie ein, drang ihr unter die Haut, füllte sie aus. Sie ging zurück ins Bett, und plötzlich tauchte eine weitere Erinnerung auf. Dan, einige Wochen zuvor, wie er im Schlaf geschrien und sie damit geweckt hatte. Verängstigt hatte sie das Licht angeknipst. Er lag nassgeschwitzt da, hatte die Fäuste geballt und starrte mit aufgerissenen Augen an die Decke.
»Dan! Süßer! Was ist denn?« Sie hatte ihn wach gerüttelt. Als sich sein Blick auf sie richtete, verspürte sie einen Anflug von Panik, denn sie hatte kurz den Eindruck, dass er gar nicht wusste, wer sie war.
»Hab schlecht geträumt«, hatte er gesagt und war dann, da es bereits fünf Uhr war, aufgestanden, um schon mal ein wenig Arbeit zu erledigen.
Keisha
Zwei Tage später war Mercy bereits unter der Erde. Die Church of Holy Hope hatte das alles in die Hand genommen. Keisha musste weiter nichts tun, als sich was anzuziehen, hinzugehen und in einem Raum voller Leute zu sitzen, die alle mit der gleichen Gewissheit daran glaubten, dass Mercy jetzt im Himmel war, wie sie davon ausgingen, dass das Frühstücksfernsehen lief, wenn sie morgens die Glotze anmachten.
Keisha gab sich währenddessen alle Mühe, tief durchzuatmen, an den richtigen Stellen aufzustehen und sich allgemein nicht unterkriegen zu lassen. Pastor Samuel hatte alles arrangiert, und Keisha stand nur benommen da, während eine ganze Reihe schwarzer Damen zu ihr kam und sie umarmte. Auch Anthony Johnsons Mutter war darunter – und auch seine Schwester, die griesgrämige Schlampe, die Keishas Blick auswich, als wollte sie nicht daran erinnert werden, was auf der Gerichtstoilette passiert war, mit der Blonden auf dem Fußboden, die ihren ausgeschlagenen Zahn in der blutüberströmten Hand gehalten hatte.
Mrs Johnson schloss Keisha ein weiteres Mal in die Arme. »Ach, deine arme Mutter. Sie ist jetzt da oben, und ich hoffe, sie passt auf meinen Jungen auf.« Sie roch genau wie Mercy, nach Hautcreme und Küchendunst, und Keisha löste sich von ihr. Sie konzentrierte sich einfach nur auf die Person, die gerade vor ihr stand, auf jeden einzelnen Schritt, der zu gehen war, und auf das, was sie als Nächstes zu erledigen hatte. In einigen Tagen, Wochen oder Monaten würde sie vielleicht in der Lage sein, tatsächlich darüber nachzudenken, was passiert war. Aber nicht jetzt.
Auf dem Friedhof sah sie auch Sandra, die Sozialarbeiterin, die hinter ihrer dicken Brille hervorblinzelte. Obwohl es ziemlich warm war, trug sie ihre übliche dicke Strickjacke.
»Hallo, Keisha.« Sandra schnäuzte sich in ein Taschentuch – Heuschnupfen, nahm Keisha an. Als Sozialarbeiterin konnte man wahrscheinlich nicht jedes Mal in Tränen ausbrechen, wenn jemand, mit dem man beruflich zu tun hatte, starb – sonst würde die Firma Kleenex echt viel Geld an einem verdienen.
»Weiß Ruby davon?«, fragte Keisha und wies mit einer Kopfbewegung auf Mercys Grab, an dem die Trauergemeinde nun irgendwas sang und dazu in die Hände klatschte. Keisha war ein Stück zurückgeblieben; sie konnte das nicht ertragen.
»Man hat es ihr auf angemessene Weise nahegebracht«, antwortete Sandra und schwieg dann einen Moment. »Sie sollten sie wirklich mal besuchen. Es ist sehr wichtig, den Kontakt aufrechtzuerhalten, wenn Sie das Sorgerecht künftig wiederbekommen wollen.«
»Und dann soll ich mit ihr in irgendeinem McDonald’s hocken, mit ’ner Sozialarbeiterin am Nebentisch? Oh, wie schmeckt dir denn dein Happy Meal, Rubylein? Und das soll fair sein? Sie ist mein Kind, verdammt noch mal.« Und woher sollte sie wissen, dass er ihr nicht folgte oder
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